Eine meditative Wanderung von Pischfleck zu Pischfleck durch den Ersten Bezirk
© Peter Weinberger, 2021
Ich möchte im Vornhinein festhalten, dass ich Hunde sehr mag. Sie sind Begleiter in Einsamkeiten, Ansprechpartner, Hausgenossen und dankbar für Liebesbezeugungen. Sie passen sich ihren Besitzern an, übernehmen deren Gewohnheiten, sind einfach Teil des Alltags vieler.
Jemanden einen „falschen Hund“ zu beschimpfen ist eine Ungerechtigkeit Hunden gegenüber,1 denn Hunde sind nicht falsch. Sie können lustig herumtrollen, laut schnarchen oder im Schlaf auf Katzenjagd unbewusst Laufbewegungen machen. Es gehört zu ihrer Natur, in Hundezeitungen -sprich Pischflecken -zu lesen. Wie sollten sie sonst Neuigkeiten aus ihrer Welt erfahren?
Allerdings sind es genau diese Pischflecken, vielleicht sollte man eher „Freilufthundeklos“ sagen, die nicht gerade zu den anziehenden Schönheiten einer Stadt gehören und überdies in der warmen Jahreszeit einen „strengen“ Geruch hervorrufen.
1Negativ besetzte Wörter wie „Hundsviech“, „Hundsgfrast“, „Hundling“ oder „Schweinehund“ gehören in dieselbe Kategorie. Dagegen kann man sehr wohl „frieren wie ein Hund“.
Bestimmte Minigrätzel im Ersten Bezirk erweisen sich geradezu als Brunzcluster, wobei eigentlich unklar ist, was dort die „Auf die Gasse gehen“-Beliebheit erweckt. Der Fleischmarkt, zum Bespiel, ist so ein Brunzcluster: kaum ein Haus ist unbepischt geblieben.
Wien 1., Fleischmarkt
Hunden ist der Ort ihrer Verrichtungen nicht bewusst, ihren Besitzern sehr wohl. Verbrunzte Gedenksteine an Holocaust-Opfer lassen am Geschichtsbewusstsein mancher Hundehalter zweifeln. Verbrunzte Gedenksteine widerspiegeln nicht bloß Respektlosigkeit, sondern offenkundig bewusste Vergangenheitsverdrängung.
Wien 1., Fleischmarkt
Die Fleischmarkthunde machen keinen Unterschied zwischen Geschäftsportalen, Türeingängen oder Verkehrszeichen. Warum auch, da sich doch die vielen Flecken — wie die an Sonntagen in Plastiksäcken überall hängende Kronen-Zeitung — vorzüglich als Hundezeitung anbieten.
Wien 1., Fleischmarkt
Wien 1., Fleischmarkt
Wien 1., Fleischmarkt
Wien 1., Fleischmarkt
Ein Brunzcluster dürfte auch die Weihburggasse ab Seilerstätte sein. Vor allem die Mauer der Franziskanerkirche und deren Nebengebäude scheint sehr beliebt zu sein, sogar der Haupteingang zur Kirche am Franziskaner-Platz ist verbrunzt. Die gegenüber liegende Seite erfreut sich ebenfalls einiger Beliebtheit.
Wien 1., Weihburggasse, Mauer der Franziskaner Kirche
Wien 1., Weihburggasse, Nebeneingang zur Franziskaner Kirche
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass im Falle der Franziskaner Kirche kein konfessioneller Fanatismus vorliegt, denn die Evangelische Stadtkirche in der Stallburggasse bzw. Dorotheergasse ist ähnlich verziert.
Wien 1., Stallburggasse, Mauer der Evangelischen Stadtkirche
Verfügt ein Gehsteig über eine ausreichende Neigung zur Straße, sind nicht selten Spuren eines Brunzbächleins bemerkbar. Mäanderartig bilden sie Bilder von chaotischer Fluiddynamik ab, hervorgerufen durch winzige Unebenheiten eines Gehsteigs bzw. abhängig vom Volumen des abgeschiedenen Harns. Bisweilen versickern diese Bächlein wie ein Aroyo am Weg in das Rinnsal vor der Straße. Insbesondere mittels Steinplatten zusammengefügte Ecken scheinen solche Aroyos zu fördern.
Wien 1., Seilerstätte
Wien 1., Bäckerstraße
Ist der Randstein etwas höher als die aufgewalzte Asphaltschichte auf dem Gehsteig, bildet sich ein zweites Lakerl, sozusagen ein zweites Reservoir, das für eine durchgehende Streifenverzierung eines Gehsteigs sorgt.
Wien 1., Bäckerstraße
Gelegentlich ist auch — wie bei einer Flussmündung — Deltabildung zu beobachten.
Wien 1., Weihburggasse
Die Neigung einer Gasse erkennt man am besten aus der Laufrichtung des Brunzbächleins. Mitunter bietet sich sogar der Pythagoräische Lehrsatz als Längenberechnungshilfe an.
Wien 1., Singerstraße
Baugerüste — es gibt viele davon im Ersten Bezirk — stellen übrigens keinerlei Hindernisse dar, denn je nach Hundegröße dient entweder der Eckstein oder eine Gerüststange als Zielobjekt.
Liebevoll ermahnende Aufforderungen durch die MA48 scheitern nicht etwa an der Tatsache, dass Hunde sie nicht lesen können, sondern einfach daran, dass sie nicht groß genug sind, dem guten Ratschlag Folge zu leisten.
Wien 1., Drinnen hui, daneben pfui, MA48, Johannesgasse
Wien 1., Mist im Kübel ist nicht übel, MA48, Singerstraße
Manche Ratschläge der MA48 werden dagegen sehr ernst genommen:
Wien 1., Empfehlen Sie mich weiter, MA48, Am Hof
Architektonische Gegebenheiten, wie jene Säule an der Ecke zwischen Seilerstätte und Singerstraße, verlocken offensichtlich, alle Seiten gleichmäßig zu besprengen.
Wien 1., Seilerstätte
Wien 1., Seilerstätte
Historische Haustüren bzw. Portale scheinen ebenfalls anregend zu sein.
Wien 1., Himmelpfortgasse
Wien 1., Seilerstätte
Verbrunzte Werbung Als nicht gerade förderlich erweisen sich gelegentlich Pischflecken für gastronomische Werbungen. Vermutlich denken sich etliche, dass eine so beworbene Gaststätte vielleicht doch nicht einladend ist.
Wien 1.,
Wolfengasse
Wien 1.,
Wolfengasse
Wien 1.,
Weihnachtsdekoration, Singerstraße
Geschäftslokale, Auslagen, Boutiquen scheinen besondere Anziehungskraft zu besitzen: einige sind bloß dezent verziert, andere wiederum gehören zur täglichen Wiederkehr.
Wien 1., Plankengasse
Wien 1., Weihburggasse
Wien 1., Seilerstätte
Wien 1., Seilerstätte
Wien 1., Seilerstätte
Wien 1., Plankengasse
Wien 1., Plankengasse
Wien 1., Plankengasse
Historische, halbrunde Hausecksteine wurden -wie viele andere Gebäudeteile in Wien -aus Sandstein gefertigt und mit einem Rauhverputz versehen. An der Oberfläche des Verputzes bilden sich im Zustand der Verpischung Schwarzschimmel bzw. andere mikrobakteriologische Verfärbungen, die für die Unansehnlichkeit eines Ecksteines sorgen.
Ist der Verputz durch mechanische Einwirkung abgeschlagen, kann eine andauernde Berieselung mit Harn eine Erosion der Oberfläche eines Hausecksteins verursachen, da Sandstein bekanntlich empfindlich gegenüber Säureeinwirkung ist. Nach jeder Benutzung wird ein solcher Stein infinitesimal kleiner. Es wäre — zugegebenermaßen — kurios zu fragen, wie viele Jahrhunderte notwenig sind, um einen bestimmten Stein „wegzupischen“.
Meist weisen vor allem runde Hausecksteine sowohl mechanische als auch Brunzschäden auf. Sie gehören zum Charakter bestimmter Gassen und erwecken kaum die Aufmerksamkeit Vorbeigehender.
Es gibt sie allerdings schon auch im Ersten Bezirk, nämlich pischfreie Zonen. Die Kärntnerstraße gehört zum Beispiel dazu. Auch der Graben und der Kohlmarkt sind bemerkenswert fleckenfrei.
Offenbar wachen die zahlreichen „Securities“ vor den Juweliergeschäften und anderen Luxustempeln darüber, dass es zu keinen canisischen Verunzierungen kommt. In Vierteln mit ausreichender Hundebevölkerung dürften dagegen vor allem die „Drei V’s“, Verbrunzt, Verpischt, Verpinkelt, zutreffen.
Vor Jahren hat eine Trafik am Hohen Markt, die stets am Gehsteig einen Ständer mit ausländischen Zeitung gestellt hatte, einen Zettel mit folgender Aufschrift angebracht:
Please, make sure
that your Hunzi
does not brunzi
on my papers
„Hunzi“ ist ein liebevoller (Wiener) Ausdruck für einen Hund, die obige Erinnerung war offensichtlich nur an vorbei schlendernde Hundehalter gerichtet.
Hunde sind wunderbare Geschöpfe: Sie sind nicht grantig, niemals missgelaunt und erwidern unaufgefordert Freundlichkeit, zumindest sobald sie Zuneigung verspüren. Wohin sie pischen liegt in der Verantwortung ihrer Besitzer, den Hunden sind alle Gegebenheiten gleich Recht, sie müssen nur genügend „Neuigkeiten“ vermitteln können.
Konkurrenz: ein Hydrant