Alle Kinder und alle Erwachsenen kennen die Sonnenblume als weithin leuchtenden Inbegriff des Sommers. Aber wer hat schon je von der Mondblume oder der Sternenblume gehört? Guido fand das äußerst unfair. Zwar dachte er sich, die Sonne ist sehr wichtig. Man braucht sie zum Beispiel, damit man weiß, wann man aufstehen soll. Regnet es, dann sind alle gleich unwirsch und schimpfen auf das Wetter. Es ist also vollkommen gerechtfertigt, wenn die Sonne eine nach ihr benannte Blume hat. Trotzdem taten Guido der Mond und die Sterne leid, die keine Blumen hatten. Noch dazu, wo doch der Mond Gesichter schneiden konnte. Einmal sah er aus wie ein großes Milchknödel und dann wieder wie ein Sonntagskipferl. Manches Mal versteckte er sich überhaupt. Die Sterne taten ihm weniger leid, zumal sie so viele waren und sich gegenseitig trösten konnten, und auch, weil die Erwachsenen immer behaupteten, daß sie so furchtbar weit weg wären.
Als Guido eines Tages seine Mutter fragte, warum es nur eine Sonnenblume, aber keine Mondblume gäbe, fand die Mutter das zwar sehr witzig, aber Antwort wußte sie keine. Wie überhaupt Erwachsene, immer wenn sie keine Antwort wissen, alles als witzig bezeichneten.
Das alles fand Guido sehr unbefriedigend. Daher fing er an, sich eine Mondblume vorzustellen. Erstens mußte sie groß sein. Ein bißchen kleiner als die Sonnenblume, aber nicht sehr viel kleiner. Und dann: weiß durfte sie nicht sein. Zwar war die Sonne und ihre Blume gelb, aber das sagt noch lange nichts. Guido beschloß, daß die Mondblume blau sein müsse (blau war seine Lieblingsfarbe). Die Blütenblätter sollten aus lauter kleinen Girlanden bestehen und in der Mitte hatte ein violetter, samtiger Fleck zu sein. Da der Mond Gesichter schneiden konnte, sollte auch die Mondblume allerhand Streiche aufführen können. War sie traurig, dann sollten die Girlanden hinunterhängen. Traurig, wie ein verfangener Drachen in einem Baum. An lustigen Tagen sollten die Girlanden wegstehen wie die Stacheln bei einem Igel. Und der violette Fleck? Der sollte eine kleine Erhöhung haben, fast so wie eine Nase in einem Gesicht, und unter der Nase sollte ein violetter Schnurrbart sein. Ja, und Augen sollte die Mondblume auch haben, denn, wie sollte sie sonst wissen, ob sie lustig sein sollte oder nicht. Guido war sehr zufrieden mit seiner Mondblume. Sie war ihm viel lieber als die Sonnenblume und alle anderen Blumen zusammengenommen.
Aber auch die Sterne sollten nicht leer ausgehen. Da sie so viele waren, war es nur recht und billig, befand Guido, daß die Sternenblume aus lauter winzigen Farbflecken bestehen soll. Aus roten, gelben, blauen, türkisen, grünen und was man sich halt so alles vorstellen kann. Und die Mondblume sollte immer gleichzeitig mit der Sternenblume blühen und ihr Duft sollte dem Geruch eines lauen Sommerabends im Freien entsprechen.
Guido fand, daß es viele Dinge, die es nicht gibt, in der Vorstellung doch geben kann, und, daß eigentlich nur die Erwachsenen offensichtlich nicht gelernt haben, sich Dinge einfach bloß vorzustellen und auszumalen. Oder haben sie's nur wieder verlernt?
© Peter Weinberger 2015