Das Vogel V

 

   
   
   

Guido hat einen Brief an seine Mama verfaßt, in ein Kouvert gesteckt und vorne draufgeschrieben:

fon Guido für Mama

Natürlich freute sie sich darüber sehr, vor allem, weil Guido dem Brief eine Zeichnung beigelegt hatte, in die er viel Arbeit hineingesteckt hatte.

Dann aber erzählte sie ihm die Geschichte, wie sich vor vielen tausend Jahren alle Buchstaben getroffen hatten und beschlossen, von nun an gemeinsam aufzutreten. Da waren einige dabei, die sich sofort vordrängten und meinten, wir sind die wichtigsten und beanspruchen daher Sonderrechte. Gäbe es nämlich uns nicht, könnte man den Rest von euch gar nicht aussprechen. Die fünf, die am lautesten schrieen, nämlich

a, e, i, o und u

hatten gar nicht so unrecht. Das a meinte zum Beispiel: „Also, wenn es uns beide, das e und mich, das a, nicht gäbe, dann wüßte niemand, daß mit

pfl  eigentlich ein Apfel  gemeint ist.

So ganz wollten die anderen Buchstaben die Wichtigkeit diesen fünf nicht zugestehen. Vor allem die Buchstaben

ä, ö  und ü,

meinten zurecht, daß es ohne sie auch nicht ginge, schließlich heißt es

Glück  und nicht Gluck.

Das ließen die fünf aber nicht gelten, denn sie behaupteten, sie wären viel wichtiger, da immer zwei von ihnen, gemeinsam als

au, ei, eu

ebenfalls Sonderrechte hatten, schließlich aus

dra, dre, dri, dro  oder dru  

wird niemals  drei.

Das sahen dann doch alle anderen anwesenden Buchstaben ein. Und weil die acht,

a, e, i, u, ä, ei, eu, ö und ü,

sich so laut und selbstsüchtig in Szene gesetzt hatten, hat der Rest der Buchstaben sie Selbstlaute genannt, obwohl sie erst in Verbindung mit den anderen einen Sinn ergaben.

Zwei ursprünglich sehr ähnliche Buchstaben schafften es nicht rechtzeitig zum Treffen der anderen zu kommen, weil sie um einen übriggebliebenen Buchstabenteil in Streit gekommen waren. Schließlich riß der eine diesen Teil an sich und reihte sich danach sofort ziemlich frech vor alle anderen Buchstaben ein. Wie man sich leicht vorstellen kann, haben die das gar nicht als lustig empfunden und haben ihn schließlich immer weiter nach hinten gestoßen. Bloß das x  und das z waren willens, ihn als Nachbarn zu akzeptieren. Zur Strafe sollte er

 y, Ypsilon

genannt werden und am wenigsten nützlich sein. Das leider zu spät gekommene v hatte allerdings von nun an stets mit dem f  zu streiten, wer von den beiden zutreffen soll. So ganz waren die beiden sich selbst nicht darüber im Klaren, denn schließlich schreibt man

fein  und nicht vein, dafür aber Vogel und nicht Fogel.

Genau deshalb flüstert das v beim Schreiben gelegentlich ganz leise, bitte mit Vogel-V und nicht mit f. Siehst du, Guido, deswegen hat sich bei deinem Brief ein f  verirrt, denn eigentlich sollte es heißen:

 von Guido für Mama

 

 

©  Peter Weinberger 2015