Acht Frauen

   
   

Sitzende Frau, neolithisch, Israel, etwa 7000 v.u.Z.

   
   
   
   
   

 
 
 
 
b-in2a bis b-in2h
 
     
Stehende Frau, Südosteuropa,
5000-3500 v.u.Z.
   

Schachspielen hatte sie bereits als Kind von ihrem Großvater gelernt. Da sie sehr bald keine ernst zu nehmende Gegner in ihrer Familie vorfand, schrieb sie ihr Großvater, der stets behauptete, Schachspielen rege das abstrakte Denken an, stolz in einem Schachclub ein. Aber selbst in diesem Schachclub, in dem sich vorwiegend schachbegeisterte Pensionisten einfanden, gab es keine wirkliche Herausforderung für sie. Und so wurde sie solange weitergereicht, bis die Schachgemeinde langsam von ihr als von einem Wunderkind zu sprechen begann.

Damals war sie gerade elf Jahre alt und hatte eben mit der Mittelschule begonnen. Das Lernen machte ihr richtigen Spaß, auch die Mathematik, die sie zum Teil als langweilig empfand. Der Grund, warum ihre Noten in diesem Fach trotzdem nicht spektakulär ausfielen, lag vor allem darin, daß sie sehr oft an der Letztausführung, bei der es lediglich darum ging, Zahlen einzusetzen, scheiterte. Es reicht, wenn ich genau weiß, was zu tun ist, lautete stets ihre Ausrede, irgendwelche Zahlen ändern doch nichts am formalen Charakter einer Aufgabe, oder?

Sehr oft wurde sie gefragt, ob sie beim Schachspielen mehrere Züge im voraus und statt den Figuren die üblichen Positionsbezeichnungen im Kopf habe. Ja, antwortete sie dann meistens etwas schelmisch, das mach’ ich schon, aber ich stell’ mir dazu auch noch etwas Besonderes vor. Auf die Nachfrage, was dies sei, schüttelte sie stets den Kopf und erklärte nur: Das ist mein Geheimnis, darüber kann und will ich nicht sprechen.

Je älter sie wurde, um so klarer wurde es ihr, daß für sie die Wunderkind-Zeit zu Ende gegangen war. Sie begann mit einem Mal sehr bewußt, das Belächeln von Frauenschach und dessen herablassende Einschätzung in manchen Clubs zu bemerken. Natürlich ärgerte sie das gewaltig. Zunächst versuchte sie, deren Vertreter in Wettkämpfen herauszufordern. Aber auch dabei stieß sie sehr bald an Grenzen, da einige es schlichtweg ablehnten, sich am Schachbrett Frauen gegenüberzusetzen. Aber geh, Mädel, hörte sie nicht selten sagen, das willst du ja selber nicht! Bleib dort, wo du bist, da bist du gut, aber uns laß bitte in Ruh’.

Als sie eines Abends unlustig und deprimiert in ihrem Zimmer saß und ihr Blick zufällig auf das sich auf einem Tischchen befindliche Schachspiel fiel, kam ihr plötzlich zu Bewußtsein, daß alles an diesem Spiel eigentlich männlich ausgerichtet ist oder zumindest der Männerwelt entlehnt zu sein scheint. Natürlich, dachte sie sich, Schach ist eigentlich das Abbild einer mittelalterlichen Königsresidenz, eines Hofstaates. Sie griff die Figuren der Reihe nach an. Also, das ist ein Bauer, ein Turm, ein Springer, und das ein Läufer. Es heißt: Der Bauer, der Turm, der Springer, der Läufer, der König. Nur wenn der König sich überhaupt nicht mehr bewegen kann, ist das Spiel zu Ende. Eine einzige Frau, die Königin, ist pro Hofstaat anwesend. Ausgerechnet sie darf sich in alle Richtungen bewegen, geradeso, als wäre sie ein Flittchen. Schon traurig, kam ihr in den Sinn, da habe ich jahrelang begeistert Schach gespielt, ohne über die Bedeutung der Figuren und deren geschlechtsspezifischen Charakter nachzudenken.

Jetzt, sagte sie sich selber, während sie alle Figuren am Schachbrett umwarf, jetzt werde ich mir eben ganz neue Bedeutungen für diese Figuren vorstellen. Statt acht Bauern gibt es acht vollbusige Bäuerinnen, ja, solche, die einen Kittel tragen und so ausschauen, als würden sie gerade wohlgelaunt von einem Erntedankfest kommen. Da es sprachlich keine Türminnen gibt, werden die Türme durch hinreißend aussehende Rechtanwältinnen in eleganten Hosenanzügen ersetzt. Die Springer mutieren zu Springerinnen, aus den Läufern werden Ministerinnen, aus der Königin eine Kanzlerin, denn schließlich leben wir in einer Demokratie.

Natürlich, fiel ihr ein, natürlich weiß ich aus Büchern über Schach, daß manche der Figuren in früheren Zeiten ganz andere Namen hatten, die aber damals auch nur die gesellschaftliche Stellung von Männern reflektierten. Warum gibt es heutzutage nicht wenigstens Arbeiter statt Bauern, da doch deren Anteil verschwindend klein geworden ist? Am besten wäre es, gleich von Arbeiter und Arbeiterinnen und von dem Rang nach geordneten Beamten und Beamtinnen zu sprechen, um das Bild eines mittelalterlichen Hofs loszuwerden.

Ein bißchen zögerte sie, ihrer Phantasie weiter freien Lauf zu gewähren, denn dem König hatte sie bisher noch keine neue Rolle zugedacht. Soll diese Figur ebenfalls eine Frau darstellen, eine Staatspräsidentin etwa, die der Mitwirkung aller anderen Frauen bedarf?

Sie stellte langsam die Figuren wieder auf. Die Bilder, die sie als Kind in jedem Schachspiel begleiteten, schienen sich plötzlich der Erwachsenenwelt angepaßt zu haben. Bilder, über die sie auch in Zukunft mit niemandem würde sprechen wollen, nämlich zum Beispiel mit insgesamt acht Bäuerinnen in der zweiten Reihe unerwartete Angriffe zu starten: Mit b-in2a bis b-in2h.


©  Peter Weinberger 2015