Stehende Frau, Syrien, 2000-1750 v.u.Z.
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„Hier, gnädige Frau“, sagte der Besitzer des kleinen Antiquitätengeschäfts zu mir, den ich aufgesucht hatte, um etwas Zeit totzuschlagen, weil ich mich wieder einmal zu früh zu meiner Verabredung eingefunden hatte. „Schauen Sie sich doch diesen japanischen Faltenfächer an! Er ist etwas ganz Besonderes und vermutlich das interessanteste Stück, das mein kleines Geschäft zu bieten hat. Den anderen Kram“, er schaute etwas verzweifelt auf die ausgestellten Möbelstücke, Bilder und Uhren, „hab’ ich nur, weil es dafür gelegentlich Nachfrage gibt. Sie haben keine Ahnung, was für Geschmacksverirrungen ich anbieten muß, um über die Runden zu kommen.“
„Der Fächer ist allerdings etwas ganz anderes. Wenn Sie ihn öffnen, lassen sich insgesamt sieben zierliche Geishas erkennen, die mit der Hand auf das Papier gemalt wurden. Obwohl die sieben zunächst vollkommen identisch ausschauen, erkennt man doch bei näherer Betrachtung einige Unterschiede: Sie sind unterschiedlich geschminkt, aber auch ihre Bekleidung variiert ein wenig. An diesen Unterschieden erkennt man übrigens, daß dieser Fächer tatsächlich handbemalt ist. Das wirklich Verblüffende zeigt sich erst, wenn man den Fächer langsam schließt. Etwa so. Man bekommt dann nämlich den Eindruck, die Figuren beginnen zu tanzen, sind zum Leben erweckt. Schauen Sie nur, was für ein großartiges Schauspiel die sieben Geishas bieten. Aber das ist noch nicht alles. Wenn Sie den Fächer umdrehen, dann bemerken Sie, daß zu jeder Figur eine Rückenansicht angefertigt worden ist. Geradeso, als ob eine zweidimensionale Sicht dieser Geishas zu liefern die Absicht gewesen ist.
Für mich ist dieser Fächer ein Wunder an Imaginationen. Schauen Sie nur: Wenn man ihn mit Blick auf die Hinterseite schließt, dann sieht es so aus, als ob die sieben Geishas trippelnd weggehen, als ob sie im Begriffe stehen, sich zu verabschieden. Wie kunstvoll die Handbemalung tatsächlich ist, erkennt man unter anderem daran, daß es weder auf der Vorder- noch auf der Rückseite irgendwelche Schatten in Folge der Doppelbemalung gibt. Ich finde es faszinierend, daß zu jeder Geisha genau fünf Falten gehören. Es sind nämlich die Falten, die beim Öffnen oder Schließen des Fächers die Geisha tanzen lassen bzw. deren Weggehen simulieren. Die jeweiligen Enden des Papierteils sind auf zwei flache Stäbchen aus dunklem Holz geklebt, die Stäbchen selber werden mittels einer einzigen Niete aus Silber zusammengehalten. Es muß ein wahrer Meister seines Gewerbes gewesen sein, der ein halbkreisförmiges, vermutlich steifes Stück Papier regelmäßig insgesamt 35 Mal falten konnte. Ich selber habe es ein paar Mal versucht: Mehr als einen unansehnlichen und unförmigen Papierknödel habe ich nicht zusammengebracht.“
„Warum ich Ihnen das alles erzähl’, fragen Sie? Ich hab’ gleich bei Ihrem Eintreten in mein Geschäft bemerkt, nicht einer der üblichen Kundinnen gegenüberzustehen. Die Bilderuhr dort an der Wand, die immer das größte Interesse erweckt, hat Sie überhaupt nicht beeindruckt. Und die anderen ausgestellten Objekte, na ja, sind – wie schon gesagt – eher Dutzendware.“
„Wie? Einen Preis für den Fächer kann ich Ihnen leider nicht nennen, da ich nicht die Absicht hab’, ihn zu verkaufen. Wenn es nämlich überhaupt nichts im Geschäft zu tun gibt, dann nehm’ ich den Fächer, öffne und schließe ihn immer wieder und erfind’ für mich ganz im Geheimen Geschichten, die mich mit den sieben abgebildeten Damen in Verbindung bringen sollen. Und ich hör’ geduldig zu, was sie mir erzählen.
Übrigens, vor dem Geschäft steht ein Mann, der offensichtlich auf jemanden wartet. Sollten Sie es sein, dann sollten Sie jetzt gehen und ihn nicht warten lassen. Ich dank’ Ihnen jedenfalls für Ihren Besuch und das Interesse, das Sie meinem Fächer erwiesen haben. Vielleicht erinnern Sie sich sogar gelegentlich daran, daß manches Mal auch so unnütze Dinge wie ein Fächer, ein Eigenleben haben können ... .“
© Peter Weinberger 2015