Sechs Frauen im Halbkreis

   
   

Stehende Frau, zykladische Kultur, 2700-2500 v.u.Z.

   
   
   
   
   

 
 
 
Das Coupé
 
     
Stehende Frau, Südosteuropa,
5000-3500 v.u.Z.
   
 

I

Im Coupé 1. Klasse eines Fernreisezuges saßen bereits einige Zeit vor der Abreise fünf Frauen. Eine nach der anderen hatte sich hinzugesellt. In Fahrtrichtung am Fenster nestelte eine eher vornehme Dame an ihrer Handtasche, das Kostüm, das sie trug, widerspiegelte ihren etwas konservativ wirkenden, gediegenen Geschmack. Ihr gegenüber wartete eine nicht weniger begütert wirkende Geschäftsfrau oder höhere Angestellte ungeduldig auf die Abfahrt, um endlich in Ruhe ihren „Laptop“ öffnen zu können. Ihr schwarzer Hosenanzug signalisierte Professionalität in der Ausführung ihres Berufs. Die beiden Frauen neben ihr schienen ebenfalls einem etwas gehobeneren Gesellschafsstand anzugehören. Lediglich die ihnen gegenüber bei der Coupé-Tür Sitzende war sehr schlicht mit einem einfachen Rock und einem Pullover bekleidet. Sie hatte bereits ihr Strickzeug herausgeholt und klapperte mit den Stricknadeln vor sich hin. Man ignorierte sich.

Plötzlich, sehr knapp vor der Abfahrt, ging die Tür noch einmal auf, und ein Mädchen oder eine vielleicht sehr mädchenhaft aussehende junge Frau quetschte sich erschöpft auf den freigebliebenen Platz.

„Sehr pünktlich“, kommentierte die Dame am Fenster die zeitgerechte Abfahrt des Zugs.

„Gerade noch geschafft“, atmete das Mädchen auf und verstaute ihren Rucksack im Gepäcksnetz. Die Mißbilligung der anderen, vor allem in Bezug auf ihre enge Jean und ihren kurzen Pullover, der einen kurzen Streifen ihres Bauches freiließ, lag förmlich in der Luft.

„Das ist ein Abteil erster Klasse“, bemerkte die im Hosenanzug etwas giftig, um darauf hinzuweisen, daß sich die eben Hinzugekommene wahrscheinlich in Anbetracht der Eile im Waggon geirrt haben mußte.

„Ich weiß“, antwortete freundlich lachend das Mädchen, „ich habe die Platzkarte genau für diesen Sitz bewußt gewählt, weil ich ungern beim Fenster oder bei der Tür sitze. Ich benutze dieses Abteil zumindest einmal im Monat, um nach Hause zu meinen Eltern zu fahren.“

Die bisher mit ihrem Strickzeug Beschäftigte hatte sehr wohl die Feindseligkeit bemerkt, die diesem Mädchen oder jungen Frau von den Anwesenden entgegengebracht wurde. Sie stand auf, holte umständlich ihren kleinen Koffer vom Gepäcksregal und entnahm ihm eine Bonbonniere.

„Da“, bot sie die Schachtel zuerst dem Mädchen an, „als Belohnung für das regelmäßige Besuchen der Eltern. Bei mir ist es leider umgekehrt: Ich muß, wie eben jetzt, meine Kinder und Enkelkinder besuchen fahren.“

Selbstverständlich bot sie danach auch allen anderen im Coupé Bonbons an.

„Das ist aber sehr nett von Ihnen“, meinte die eher vornehme Dame am Fenster, „ich habe allerdings auch etwas, das ich den Damen anbieten kann.“  Sie entnahm einem Papiersack mit der Aufschrift eines bekannten Stadtgeschäftes so eine Art Kommode, gefüllt mit feinsten Bonbons: „Die kauf’ ich nur, weil Kinder so gern mit diesen Schachteln spielen.“

Mit einem Mal kam zögernd ein Gespräch zustande.

„Wo wohnen denn Ihre Eltern“, erkundigte sich die dem Mädchen Gegenübersitzende.

„In einem kleinen Städtchen in Vorarlberg“, entgegnete dieses, froh, daß das Eis gebrochen war. „Es ist urlangweilig dort, ich bin dort aufgewachsen. Ich bin – wie es so schön heißt –kleinstadtgeschädigt. Manches Mal hab’ ich den Eindruck, alle schauen einem zu, wenn man sich zum Essen setzt. Und erst die Burschen dort. Für die sind wir jungen Frauen nur so etwas wie Freiwild, das es zu jagen gilt. Emanzipiert sind dort höchstens die Gastwirtinnen, die auf ihren dicken Hintern herumsitzen und Befehle an das Personal geben.“

Bei dem Wort Hintern zuckte zwar die nach wie vor an ihrem „Laptop“ Hantierende zusammen, meinte aber dann zustimmend: „Das mit den Männern ist so eine Sache. Selbst wenn man – so wie ich – eine ziemlich gehobene Position einnimmt, gibt es immer wieder welche, die einen zu befingern versuchen. Davon kann ich leider ein Lied singen.“

Die bei der Tür Sitzende erkundigte sich neugierig, was denn die junge Mitfahrerin in der Großstadt mache, denn, wie sie vorsorglich hinzufügte, so einfach sei das Leben auch dort wieder nicht.

„Ich bin Stationsärztin in der urologischen Abteilung eines großen Spitals“, erwiderte diese nicht ohne Stolz und fügte bedauernd hinzu: „Bei uns zu Hause gibt’s leider nur geringe Möglichkeiten, meinen Beruf auszuüben.“

„Dann sind wir ja fast Kolleginnen“, streute nun die am Fenster Sitzende ein, die in der Zwischenzeit ihre Handtasche neben sich gestellt hatte. „Ich hab’ eine ziemlich große Privatpraxis im Zentrum der Stadt. Für Haut- und Geschlechtskrankheiten“, fügte sie vorsichtig hinzu, sich gewissermaßen für die vordergründige Anrüchigkeit ihres Faches entschuldigend. „Ich bin gerade unterwegs zu einem großen internationalen Kongreß, der dieses Jahr in der Schweiz stattfindet. Statt zu fliegen, wollt’ ich einmal mit dem Zug das Land durchqueren.“

Im Nu waren die beiden Bonbonnieren geleert und das Gespräch lebhafter geworden. Selbst die im Hosenanzug hatte den „Laptop“ zugeklappt und beteiligte sich interessiert am Gespräch. Erst als der Speisewagenkellner vorbeikam und ankündigte, daß ab sofort im Speisewagen das Mittagessen serviert werde, bemerkten alle erstaunt, daß seit Fahrtantritt bereits einige Stunden verstrichen waren.

„Kommt wer mit?“, erkundigte sich aufmunternd die sich offensichtlich in einer gutbezahlten Managerposition Befindliche am Fenster. „Ich lad’ Euch herzlichst dazu ein. Ich hab’ es satt, auf Reisen immer allein im Speisewagen herumzusitzen. Nach meiner Ankunft heut’ geht’s leider gleich los. Für ein halbwegs gemütliches Essen ist dann keine Zeit mehr.“

Nachdem sie zurückgekommen waren, plätscherte die Unterhaltung aufs angenehmste weiter. Visitkarten wurden gezückt bzw. Adressen ausgetauscht. Man versprach sich, sich einmal auch zu Hause treffen zu wollen, sobald halt alle wieder zurück sind.

„Schade“, meinte schließlich eine von ihnen, „daß ich bei der nächsten Station aussteigen muß. Zum ersten Mal – und ich fahre sehr oft diese Strecke – wär’ ich gern weitergefahren. Mit euch als Mitreisenden.“

Ganz offensichtlich hatten sich die sechs Frauen im Abteil innerhalb einiger Stunden angefreundet. Und das trotz des anfänglichen Mißtrauens und vorliegender sozialer Unterschiede. Selbst der jungen Frau schien es leid zu tun, daß sich ihre Mitfahrerinnen eine nach der anderen verabschieden mußten. In Vorarlberg war dann auch ihre Reise zu Ende.

Irgendwie hatte ein kleines Wunder stattgefunden, denn üblicherweise sitzen sich gemeinsam in einem Coupé Reisende nur schweigend gegenüber und warten sehnsüchtig darauf, daß die anderen endlich aussteigen.


©  Peter Weinberger 2015