Sechs Frauen im Halbkreis

   
   

Weiblicher Torso, Südosteuropa, 5000-3500 v.u.Z.

   
   
   
   
   

 
 
 
Susanna im Bade
     
Gefäßtragende Frau, Südosteuropa, 
5000-3500 v.u.Z.
   

Nein, es soll hier nicht auf die Susanna im Bade, auf jenes berühmte Ölgemälde des Jacopo Robusti, genannt Tintoretto, eingegangen werden, das dieser um 1555 in Venedig gemalt hat und das eines der Glanzstücke des Wiener Kunsthistorischen Museums ist. Auch auf Susannas Geschichte in der Bibel, mit den beiden ihre Nacktheit während des Badens beglotzenden Alten, wird nicht Bezug genommen. Es ist viel banaler, alltäglicher. Vielleicht sollte man über Susanne Hofreiters Badezimmer mit dem raffinierten Spiegel überhaupt nicht sprechen.

Die Sache ist nämlich die, daß sich genau in jenem Eck, in dem der Waschtisch steht, übrigens genau gegenüber der Dusche, ein dreiteiliger Spiegel entsprechend dem Grundriß eines verzerrten halben Rechtecks befindet. Steht Susanne, eine recht aparte junge Frau, vor ihrem Spiegel, dann genügt bereits eine winzige Augenbewegung, um sich von drei Seiten her anschauen zu können. Und weil es so einfach ist, sich von links und rechts genauso gut wie von vorn zu betrachten, gehört das Posieren vor dem Spiegel nicht nur zu Susannes morgendlichem Vergnügen, sondern hat sich fast zu einer Sucht entwickelt. Verwendet sie außerdem einen Handspiegel, um zum Beispiel die Frisur am Hinterkopf zu überprüfen, dann lachen ihr zumindest sechs Spiegelbilder entgegen: Sechs Mal Susanne, obgleich nur zu einer einzigen Person gehörend, jedoch als Imaginationen durchaus vorhanden. Klarerweise entgeht dem Spiegel nicht, wenn sie aus der Dusche steigt und er das Abtrocknen ihres Körpers überwacht: Einmal von links und dann wieder von rechts.

Vor allem nach dem Haarewaschen, einer der Steigerungen ihres täglichen Wohlgefühls, findet der Handspiegel neue Begebenheiten vor. Das Handtuch zu einem Turban um ihren Kopf gewickelt, verhilft ihr der Handspiegel zu einer fast rituellen Inspektion ihres Rückens und dessen Verlängerung.

Schon faszinierend, denkt sie sich immer wieder, da steh’ ich frisch aus der Dusche kommend und kann mehr oder weniger zeitgleich nicht nur meinen Bauch sehen, sondern auch meine rechte und linke Hüfte.

Was wäre, stellt sie sich immer wieder vor, wenn plötzlich – wie in einer Geschichte von Gogol oder Bulgakow – sich alle sechs Spiegelbilder als real vorhandene Personen erweisen? Zähl’ ich dann überhaupt noch mit? Mit mir wären es dann sieben Frauen, die sich um meinen Waschtisch drängen. Ohne Handspiegel wären wir immer noch vier!

Gott sei Dank, beruhigt sie sich dann immer selber, Gott sei Dank, machen sich Spiegelbilder nie selbständig. Ich muß nur das Licht abdrehen und das Badezimmer verlassen, damit alle anderen Susannen verschwinden. Gut, daß meine Spiegelbilder nicht sprechen können, wenigstens bleiben mir deren boshafte Bemerkungen erspart.

Erst sobald sich Susanne sorgfältig angezogen hat, fühlt sie sich für den auf sie zukommenden Tag gewappnet: Alles ist wohlverpackt, selbst die Seitenspiegel drücken Zufriedenheit mit ihrem Äußeren aus.

Wie schon gesagt, eigentlich ist Susanne Hofreiters Bad nicht der Rede wert, hätte sie nicht diesen ausgefallenen Spiegel zur Verfügung: Die Seitenspiegel ersetzen die beiden Alten in Tintorettos Bild.

 


©  Peter Weinberger 2015