Säulenkapitell, Kloster S. Guilhelm-le Désert, ehemals im Laguedoc-Roussilon gelegen, 12. Jahrhundert
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Wenn Sie genau schauen, dann können Sie mich in der letzten Reihe stehen sehen. Vor mir, ganz vorn in der ersten Reihe, sitzt Angela Eins und spielt hingebungsvoll auf einer Orgel. Begleitet wird sie von Angela Zwei auf einer italienischen Harfe und von Angela Drei, die eine Viola da Gamba bedient. Angela Eins trägt ein farbenprächtiges Brokatkleid, die Kleider von Angela Zwei und Drei, ebenfalls aus Brokat, sind dagegen jeweils in Rot und Grün gehalten. Weil die drei uns, Angela Vier und mich, ziemlich verdecken, kann man nicht erkennen, daß wir ebenfalls mit Brokatkleidern ausgestattet sind, nur halt ein bißchen schlichter in der Aufmachung. Übrigens, Angela Vier hat lediglich die Aufgabe, ernst, aber bestimmt das Harfenspiel von Angela Zwei zu überwachen.
Ich muß Ihnen leider etwas gestehen: Es ist unheimlich langweilig, immer gleichförmig heiliger Musik zuzuhören. Meine Aufgabe ist ja nur, lieblich dreinzuschauen. Sie können sich hoffentlich vorstellen, daß einem dabei langsam das Gesicht einschläft. Da haben es unsere Freundinnen vom Chor schon leichter, den erstens dürfen sie sehr schöne Kleider in Rot und Grün tragen, und zweitens haben sie wenigstens etwas zu tun. Eine in der allerletzten Reihe dürfte allerdings ähnliche Probleme haben wie ich und nicht ganz zufrieden sein mit ihrem Schicksal. Sie schaut stets gelangweilt in eine etwas andere Richtung wie der Rest des Chors.
Warum es insgesamt ausgerechnet dreizehn sein müssen, acht Engelfrauen links und fünf rechts, die Meister Jan van Eyck, gemeinsam mit seinem Bruder Hubert, als Teil seines schließlich in der Genter St. Bavo-Kathedrale aufgehängten Altarbildes gemalt hat, ist mir ein Rätsel, denn so heilig ist die Zahl dreizehn auch wieder nicht. Beim Letzten Abendmahl haben sich bekanntlich zwölf Apostel und ein Verräter, nämlich der Judas, also insgesamt dreizehn, zu einem Essen mit Unserem Herrn eingefunden. Außerdem besagt die Überlieferung, daß Erzvater Jakob mit seinen beiden Frauen insgesamt dreizehn Kinder zeugte, zwölf Söhne und eine Tochter namens Dinah. Ausgerechnet Dinah soll für die Anzahl von uns Engelfrauen ausschlaggebend gewesen sein? Da bin ich schon eher gewillt, an eine esoterische Richtung in der Summe 12 + 1 zu glauben, gewissermaßen als eine Aufforderung, nach dem Erreichen der Zahl zwölf die Zeit weiter im Uhrzeigersinn zu verfolgen.
So ganz uninteressant ist es allerdings auch wieder nicht, eher unbemerkt in der letzten Reihe der Musikantinnen zu stehen, obwohl mir, wie schon gesagt, das ewige Halleluja ziemlich auf die Nerven geht. Direkt neben mir, leider von Meister van Eyck in das Nachbarpaneel verbannt, befindet sich nämlich Eva. Nackt, wie es sich gehört. Sie hat kleine Brüste und hält, den Bauch leicht nach vorn gewölbt, die linke Hand vorschriftsgemäß vor ihr Geschlecht. Ich hab’ natürlich eine bessere Sicht auf sie als Sie von vorn, und ich kann sehr wohl durch den Haarbewuchs ihres Hügelchens sehen. Warum sie ausgerechnet diesen blöden roten Apfel in ihrer rechten Hand halten muß, ist mir schleierhaft, da es doch, so erzählt man sich zumindest unter uns Engeln, im Paradies wesentlich interessanteres Obst als verschrumpelte norddeutsche Äpfelchen gegeben hat. Hätte es nicht zumindest ein Granatapfel sein können?
Vom ganz links stehenden Adam wenden sich übrigens meine singenden Freundinnen züchtig ab, obwohl er der Ordnung halber über ein Feigenblatt an der bewußten Stelle verfügt. War es eigentlich Absicht, daß sie etwas mehr zeigen darf als er? Um es gleich zu sagen: Mein Typ ist er nicht, der Adam! Ein unangenehmer Mensch!
Ja, ich gebe es zu: Ich finde Eva geradezu aufregend. Ich stell’ mir beim Herumstehen des öfteren vor, zu ihr hinüberzugreifen, um wenigstens für einen Moment die Weichheit ihrer irdischen Haut zu verspüren . . . .
Wie? Ausgerechnet wir Engelfrauen sollen zu Enthaltsamkeit angehalten sein? Nur weil manche von Ihnen sich das so wünschen? Sind Sie wirklich der Meinung, wir singen und musizieren 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr? Ein bißchen Privatleben darf man selbst uns Engeldamen zugestehen!
Alles im allem sind wir jedoch wesentlich besser dran als die Maria, die rechts vom Chor auf ihrem Thron sitzt. Prächtig gekleidet ist sie schon, das muß man ihr neidlos lassen. Sie trägt ein leuchtend dunkelblaues Kleid mit passendem Umhang, beide verziert mit bunten Borten. Vermutlich soll die Farbe Blau ihre Unschuld, ihren jungfräulichen Zustand unterstreichen. Von Maria wird lediglich erwartet, ruhig zu sitzen und in einem Buch zu lesen, das, um dessen Heiligkeit zu betonen, sie mit einem grünen Tuch zu halten hat. Erstens paßt meines Erachtens das Grün des Tuchs nicht zu dem Blau ihres Kleides, und zweitens ist es schon eine Zumutung, immer die selbe Schwarte in der Hand halten zu müssen. Arme Maria! Niemand redet mit ihr, niemand schenkt ihr von Zeit zu Zeit ein Lächeln. Jeden Morgen werden ihre langen dunkelblonden Haare sorgfältig gebürstet, sie bekommt eine Krone aufgesetzt, das Buch in die Hand gedrückt, und auf geht’s zu einem weiteren Tag langweiligen Herumsitzens. Dabei bin ich gar nicht sicher, ob sie überhaupt lesen kann, da doch den alten Gebräuchen entsprechend Mädchen bzw. Frauen keinen Zugang zu Bildung hatten. Wir Engelfrauen können wenigstens miteinander scherzen, fröhlich sein, uns aneinanderschmiegen, sie dagegen hat in Einsamkeit zu verharren.
Also, wenn Sie uns das nächste Mal besuchen, um das Altarbild Meister van Eycks zu bewundern, dann schauen Sie, ob Sie mich unter den fünf Musikantinnen entdecken können. Ich steh’, wie ich schon gesagt hab’, eher im Hintergrund. Und bitte erzählen Sie nicht herum, daß wir Engeldamen ein unartiges Pack sind. Es ist überhaupt nicht lustig, Tag für Tag ausschließlich jungfräulich züchtig zu lächeln.
© Peter Weinberger 2015