Marmorsarkophag, Detail, griechisch-phönizisch, etwa 500 v.u.Z.
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Sie trafen sich wie in den vergangenen Jahren für eine Woche in Burgund. Bei Chantal, die dort ein kleines, leicht verfallenes Chateau besitzt. Sie, das waren Abigail aus New York, Betty aus Oxford, Waltraud aus Wien und Gina aus Mailand. Sie alle hatten sich bei unterschiedlichen Gelegenheiten getroffen und bereits in den ersten Momenten ihrer Begegnungen das Gefühl gehabt, die jeweils andere seit Jahren zu kennen, mit der eben Getroffenen ganz besonders verbunden zu sein. Bis auf Chantal, die unverheiratet und kinderlos geblieben ist, hatten alle bereits erwachsene Kinder und die Fünfzig überschritten.
Abigail und Betty hatten sich schon vorher am Pariser Flughafen Charles de Gaulle getroffen. Die Weiterfahrt erfolgte anschließend gemeinsam mit dem TGV. Waltraud flog, wie in den Jahren davor, nach Zürich und wartete dort auf Gina, die mit dem Zug aus Mailand angereist kam, um mit ihr in einem Leihwagen die Weiterfahrt nach Burgund fortzusetzen.
Schließlich waren alle da: Das Umarmen wollte fast kein Ende nehmen. Waltraud inspizierte traditionellerweise nach der ersten Begrüßungseuphorie sofort die Vorräte in der Küche. Danach setzten sich alle in Chantals Auto, um gemeinsam den Spaß am Einkauf im benachbarten Städtchen zu erleben. Chantal und Waltraud schleppten dort wie jedes Jahr Baguettes aus der lokalen Boulangerie an, Betty, eine Käsefanatikerin, wollte sich auf keinen Fall den obligaten Besuch in der Fromagerie entgehen lassen, während Abigail und Chantal Pâtés, Fleisch und Fische erstanden. Zum Schluß wurden noch Gemüse und Obst eingekauft. Um Wein mußten sie sich nicht kümmern, denn Chantal verfügte über einen wohlgefüllten Weinkeller, der selbstverständlich beliebig geplündert werden durfte.
Bereits während des Hinwegs, im Auto, hatte das große Erzählen begonnen, schließlich hatte man sich vieles mitzuteilen. Wichtiges und weniger Wichtiges, das sich ein Jahr lang aufgestaut hatte. Zu Hause angekommen, wurden zunächst alle erstandenen Schätze in der Küche verstaut, bevor es als Auftakt einen traditionellen Kir Royal gab.
Endlich war es dann soweit: Der Tisch war gedeckt, die Pâtés, Baguettes und der Wein standen bereit. Waltraud, die wie in den vorangegangenen Jahren für das Kochen verantwortlich zeichnete, hatte wieder einmal, so meinten jedenfalls die anderen, gezaubert: Die Forellen in Kapernsauce, serviert mit einem Zitronenhäubchen, und Erdäpfel auf burgundische Art waren in der Tat preisverdächtig. Nachdem schließlich auch noch die verschiedenen Käsesorten verkostet waren, blickten alle erwartungsvoll auf Chantal. Fast mit zeremonieller Würde holte sie daraufhin ein kleines, weißes Leinensäckchen und stellte es in die Mitte des Tisches.
Dieses Säckchen hatte eine ganz spezielle Bedeutung für ihr jährliches Treffen. Als sie sich nämlich das erste Mal bei Chantal eingefunden hatten und man nach dem Essen bereits in das Wohnzimmer übersiedelt war, kehrte Betty in das Eßzimmer zurück, ordnete dort fünf Sesseln so an, daß sie die Eckpunkte eines regelmäßigen Fünfecks, eines Pentagons, wie sie es nannte, bildeten.
„Könnt ihr bitte noch einmal zurückkommen? Ich muß euch nämlich etwas erklären“, hatte die Aufforderung gelautet, auf den so arrangierten Sesseln Platz zu nehmen.
„Ein regelmäßiges Fünfeck hat überraschende Eigenschaften. Jede von uns sieht von ihrem Platz aus zwei Paare. Ich, zum Beispiel, sehe Chantal und Waltraud zu meiner Linken und Abigail und Gina zu meiner Rechten. So gruppiert und betrachtet, scheine ich von den beiden Paaren ausgeschlossen, vielleicht von ihnen sogar unbewußt bedroht zu sein. Gleichzeitig kann ich mich aber auch als Mittelpunkt zwischen meinen beiden unmittelbaren Nachbarinnen, Chantal und Gina, fühlen, konfrontiert lediglich von einem Paar, nämlich Waltraud und Abigail.
Was ich damit sagen möchte, ist, daß man die Eckpunkte in einem Fünfeck emotional unterschiedlich besetzt betrachten kann. Zunächst einmal isoliert als Einzelperson, konfrontiert von zwei Paaren. Diese Sicht ist mit der Gefahr der Ausgrenzung, mit einem unbewußten Sichzurückziehen verbunden. Die andere Sichtweise, nämlich geschützter Mittelpunkt zwischen unmittelbaren Nachbarinnen zu sein, vermittelt dagegen ein Gefühl der Geborgenheit. Probiert es selbst einmal aus! Ihr werdet sehen, daß ich recht habe.
So, und jetzt werdet ihr mich fragen, wozu ich das alles erzählt hab’. Das ist eigentlich sehr einfach. Als uns zuvor Chantal durch das Haus geführt hat, öffnete sie die Türen zu drei Schlafzimmer. In jedem steht ein Doppelbett. Benützen wir alle drei, dann hat eine von uns allein zu sein. Ihr erinnert euch, das ist die Sicht von einem isolierten Eckpunkt aus, die die Gefahr des Ausgeschlossenseins in sich birgt. Kein Flüstern oder Tuscheln mit einer Bettnachbarin. Verwenden wir nur zwei der Schlafzimmer, dann hat eine von uns zwei Bettnachbarinnen. Ich jedenfalls bin für die Lösung 3 + 2 statt 2 + 2 + 1. Was meint ihr?“
Während sie sprach, hatten die anderen zunächst verwundert in der Runde herumgeschaut. Aber dann – und ein Blick auf die Sesselanordnung genügte – schien alles sehr logisch zu klingen. Abigail platzte ungeduldig als Erste mit ihrer Meinung heraus: „Also, ich bin nicht von New York nach Frankreich geflogen, um allein in einem Kämmerchen zu übernachten. Ich will die Gelegenheit haben, mich mit einer Bettnachbarin zu unterhalten, mich wieder wie ein junges Mädchen in einem Feriencamp zu fühlen.“ Da alle anderen der selben Meinung waren, stand Chantal plötzlich auf und riß fünf Zettel aus einem Notizblock. Auf einen malte sie ein großes X. Dann rollte sie die Zettel zusammen und legte sie in ihren alten Gartenstrohhut.
„Auslosen, wer in der Mitte schlafen darf! Das ist wohl die beste Art und Weise zu beginnen“, meinte damals Betty lachend. „Ich schlage außerdem vor, daß wir dem Alphabet nach wechseln. Jede von uns – wir beabsichtigen ja fünf Nächte zu bleiben – darf so einmal in der beschützten Mitte sein. Ich bin schon neugierig, wer von uns das X ziehen wird.“ In jenem ersten Jahr war es die Hausherrin selber. Mit jeder weiteren Nacht wurde der tägliche Wechsel des Schlafplatzes selbstverständlicher, und anfängliche Reserviertheiten verschwanden.
Bereits im nächsten Jahr präsentierte Chantal freudenstrahlend ihren Freundinnen das Säckchen mit den Holzkugeln. „Da, schaut, es sind vier weiße und eine schwarze Kugel“, überraschte sie die anderen gleich beim Eintreffen mit ihrer Erfindung. „Wer die schwarze Kugel zieht, darf als Erste in der Mitte schlafen.“ Und dabei blieb es in den folgenden Jahren.
Einmal in der Mitte schlafen zu dürfen erwies sich für alle fünf Frauen als eine vollkommen neue Erfahrung, aus der sich eine ganz besondere Vertrautheit mit den anderen ergab. Es war wie eine Rückkehr in das längst vergessene Wohlgefühl eines Kindes, sich, aus einem schlimmen Traum erwacht, zwischen die Eltern legen zu dürfen.
Die Aufenthalte in Burgund verliefen jedes Jahr nach dem selben Schema: Späte Frühstücke, gefolgt von kleinen Ausflügen, um weniger bekannte romanische Bauten in der Nachbarschaft kennenzulernen, und vor allem, um für die Opulenz des gemeinschaftlichen Nachtmahls zu sorgen. Die späteren Nachmittage waren für Lesen, Musikhören und natürlich für intensive Gespräche reserviert. Sogar das Thema Pentagramm kam jedes Jahr auf’s neue zur Sprache, sei es, weil eine von ihnen die Beziehungen zum berühmten Goldenen Schnitt entdeckt hatte, oder aber auch, weil plötzlich ikonographische Interpretationen von Pentagrammen einer Diskussion bedurften. Die Hauptattraktion blieb allerdings durch all die Jahre hindurch die tägliche Zeremonie des Bettenwechselns und das damit verbundene Gefühl, sich vollkommen unbeschwert und ungestört in einer Gruppe von fünf gleichgesinnten Frauen bewegen zu können.
© Peter Weinberger 2015