Vier Frauen im Halbkreis

   
   

Stehende Frau, israelitische Kultur, 8.-7. Jahrhundert v.u.Z.

   
   
   
   
   

 
 
 
Jause bei den vier Kartenköniginnen
     
Grabstein, Klassische Periode,
zypriotisch, 4. Jahrhundert v.u.Z.
   

Sie trafen sich jeden Donnerstag abwechselnd in der Wohnung einer von ihnen um Punkt halb vier zu einer Jause. Da sie alle vier im ersten Wiener Gemeindebezirk wohnten, war für jede von ihnen höchstens ein kleiner Spaziergang notwendig, um rechtzeitig zum wöchentlichen Treffen einzulangen. Drei von ihnen waren verheiratet, die vierte seit etlichen Jahren geschieden. Ihre Wohnungen verrieten finanzielle Sorgenfreiheit: Exquisite Möbel trugen zur gehobenen Ausstattung der Räume bei; an den Wänden hingen teuer aussehende Bilder.

„Leider merkt man“, pflegt eine von ihnen, nämlich die Katja Rabinowicz, zu ihrer Freundin Lea Smoliner jedes Mal mitleidvoll zu sagen, wenn wieder einmal der Blick auf die Bilder in deren Wohnung fällt, „daß dein Mann zwar ziemlich reich ist, aber leider über keinerlei Geschmack verfügt. Schad, daß du dich seinerzeit beim Ankauf der Bilder nicht hast durchsetzenkönnen.“

Diese gelegentliche Bemerkung traf leider sehr wohl zu, denn Lea Smoliner war eine sehr gebildete Frau, besaß ein Doktorat in Literaturwissenschaften, während der besagte Gatte, ohne sehr viel Vorbildung, durch einen schwunghaften Import/Exporthandel über die Jahre hinweg sehr wohlhabend geworden war. Bei einer solchen Gelegenheit nicken die anderen wissend, selbst die Angesprochene fühlt sich nicht beleidigt, denn bei zwei der verständnisvoll Nickenden war es nicht sehr viel anders.

Eigenständig wohlhabend schien nur die Katja Rabinowicz zu sein. Sie wurde allerdings gelegentlich von den anderen belächelt, da bei ihr manches Mal das heimatliche Berlinerisch durchschimmerte, obwohl sie bereits seit vielen Jahren in Wien lebte. „Anschlußdeutsch“ nannten es die anderen.

Bis auf die Katja kannte sich der Rest bereits seit ihren Studienzeiten an der Universität Wien. Eine von ihnen, nämlich die Doris Landauer, war eine durchaus anerkannte Psychoanalytikerin und als solche nach wie vor berufstätig.

Die Jause am Donnerstagnachmittag stellte jedenfalls eine wunderbare Gelegenheit dar, den Tisch mit dem schönen Porzellangeschirr und den kleinen silbernen Mehlspeisgabelchen zu decken. Der Nachmittag begann jeweils mit derselben Frage: „Wer will Kaffee, wer Tee?“, obwohl seit Jahren immer nur Kaffee gewünscht wurde. Danach wurden Mehlspeisen und Tortenstücke serviert sowie eine Platte mit sorgfältig verzierten, winzigen Lachs- und Kaviar-Sandwiches. Natürlich war es kein echter Kaviar, aber es schaute immer sehr hübsch aus. Saß man dann endlich gemeinsam um den Tisch herum, war der Zeitpunkt gekommen, die Tratschschleuse zu öffnen. Meist richteten sie Leute aus, die alle sehr gut kannten. Fragen wie „Kennt ihr die oder den“ dienten dabei höchstens als rhetorischen Einleitungen.

„Also, wie die wieder ausgeschaut hat, einfach unmöglich! Das Kleid ist an ihr wie eine Wursthaut gehängt. Und diese aufdringlichen Schuhe, die überhaupt nicht dazugepaßt  haben.“

Worauf eine andere sofort auch den Mann der besagten Person aufs Korn nimmt: „Neulich hat er wie ein Obdachloser ausgeschaut. Er könnte endlich einmal auch einen anderen Anzug anziehen, vor allem aber, sich gelegentlich die Schuhe putzen oder putzen lassen, denn wie man hört, haben die nicht nur eine Haushälterin, sondern sogar ein Köchin! Stellt euch nur vor: So ein Luxus, heutzutage eine eigene Köchin zu beschäftigen! Ich will gar nicht wissen, mit welchen krummen Geschäften er so reich geworden ist.“

Sobald das Ausrichten anderer Leute erschöpft ist, richtet sich das Gespräch üblicherweise auf die eigenen, schon fast erwachsenen Kinder. Klarerweise ist kein einziges darunter, das nicht ein unerkanntes Genie ist oder zumindest alle anderen an Intelligenz übertrifft.

Begonnen hat das mit der Selbsternennung zu Kartenköniginnen, daß die Katja Rabinowicz ihre Freundinnen bei einer bestimmten Gelegenheit daran erinnerte, daß ihr Mädchenname Hertz lautet und sie aus einer bekannten Berliner jüdischen Familie stamme. Ein Großgroßonkel von ihr sei der berühmte Physiker Heinrich Hertz gewesen, ein weiterer Verwandter damit auch dessen Neffe Gustav Hertz, ein Physiknobelpreisträger.

Worauf die Lea Smoliner schnippisch meinte, sie sei über ihren Mann mit Gustav Pick verwandt, sei sozusagen eine angeheiratete Großgroßnichte von ihm. Der Gustav Pick, fügte sie triumphierend hinzu, ist der Schöpfer der eigentlichen Hymne von Wien, nämlich des Fiakerlieds. Damit die anderen garantiert wissen, wer oder was damit gemeint ist, versuchte sie sich sofort auch als Sängerin: „I führ’ zwa harbe Rappen, Mein Zeug dös steht am Grab’n, A so wie dö zwa trappen, Wer’ns net viel g’sehen hab’n … . Dieses Lied habt ihr doch alle schon einmal gehört, oder?“

„Also, meine Familie, die Sagredis“, meinte daraufhin die Doris Landauer stolz, stammt von sephardischen Juden ab. Bei uns gibt es eine lange Familienchronik, die fast bis in die Zeit der Vertreibung der Juden aus Spanien reicht. Einer meiner Vorfahren, heißt es, soll angeblich der Joseph ben Ephraim Karo gewesen sein, ein – wie ihr vielleicht wißt – sehr berühmter Rabbiner, der den Schulchan Aruch verfaßt hat. Allerdings, von welcher seiner drei Frauen wir abstammen, ist nicht ganz klar, er hat nämlich dreimal geheiratet.“

 An dieser Stelle unterbrach sie die vierte im Bunde, Magda Hochfellner, mit schallendem Gelächter. „Und ich bin die Treffkönigin! Fällt euch nichts auf? Hertz, Pick und Karo? Wir sind die Kartenköniginnen und nicht die in einem Kartendeck!“ Über diesen Einfall begannen sich die anderen vor Lachen fast zu zerkugeln. Der Gastgeberin jenes Nachmittags gefiel das so gut, daß sie aufsprang, vier Sektgläser auf den Tisch stellte und aus der Küche eine Flasche gekühlten, echten Champagners holte.

„Auf uns vier Kartenköniginnen“, prosteten sie sich selbst zu.

Übrigens, das Ausrichten anderen Leute fiel ihnen, da sie sich nun als die vier Kartenköniginnen dazu berechtigt fühlten, noch viel leichter. 

 


  ©  Peter Weinberger 2015