Stehende Frau, zykladisch, 2700-2500 v.u.Z.
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„Der bunte Tetraeder auf meinem Schreibtisch gefällt Ihnen offensichtlich“, meinte der sehr gepflegte ältere Mann jovial, den ich aufgesucht hatte, um ihn über seine Bekanntschaft mit jener berühmten Schriftstellerin zu befragen, über die ich ein kleines Essay zu schreiben beabsichtigte.
„Sehen Sie, der steht auf meinem Schreibtisch, um mir beim Erinnern zu helfen. Seine Seitenflächen sind rot, grün, blau und – zur Zeit nicht sichtbar – schwarz. Jedes Eck dieses Tetraeders soll mich an eine Frau erinnern, mit der ich einen Teil meines Lebens verbringen durfte. Sozusagen als sichtbares Zeichen meiner eigenen Vergangenheit.
Das rot-grün-blaue Eck, das gerade jetzt die Spitze des Tetraeders bildet, führt mich zurück in die Zeit meiner allerersten Lebensgemeinschaft mit einer Frau, in eine Zeit, als wir beide, sie und ich, gerade so um die zwanzig Jahre alt waren. Beide waren wir voll der Erwartungen und Ansprüche an unser zukünftiges Leben. Sie sogar um einiges mehr als ich. Mit der Zeit klafften allerdings unsere Hoffnungen so weit auseinander, daß unsere Gemeinschaft daran scheiterte. Rückblickend erinnert sie mich – um einen Vergleich zu verwenden – ein wenig an einen Stein mit scharfen Kanten. Die haben in der Folge –nachdem wir uns getrennt hatten – die Notwendigkeiten des Alltags gründlich abgeschliffen. Treffe ich sie jetzt gelegentlich auf der Straße, eigentlich immer nur zufällig, dann bemerke ich nichts mehr von ihrer ehemaligen Eckigkeit. Sie ist – um bei dem Vergleich mit Steinen zu bleiben – zu einem der vielen runden Steine geworden, die, ohne Unterschiede zu treffen, die Geröllmenge des Alltags mit sich schiebt. Und dennoch, die Jahre mit ihr nehmen einen ganz besonderen Platz in meinen Erinnerungen ein.
Wenn ich, wie jeden Tag nach dem Frühstück, meinen Tetraeder um eine Kante kippe, kommt eine andere Spitze – so wie jetzt die mit den roten, grünen und schwarzen Seitenflächen – zu Tage. Es ist vor allem diese Spitze, die in mir sehr intime Erinnerungen weckt, über die ich vielleicht überhaupt nicht sprechen sollte.
Sie war ein sehr hübsches Mädchen, besser gesagt, eine sehr hübsche junge Frau, nicht allzu groß, mit langen, schwarzen Haaren. Im Grunde genommen hat sie mich verführt und nicht ich sie. Vielleicht hat sie das Verführen lediglich sehr leicht ermöglicht. Ihre samtig weiche Haut schien bei der geringsten Berührung Verlangen in ihr zu erregen. Allerdings erwies sie sich als äußerst besitzergreifend: Sie erhob, wie sie meinte, berechtigten Anspruch an all meinen Interessen und Tätigkeiten, und zwar derart, daß ich letztlich nicht mehr eigenständig denken konnte. Ich mußte einfach aus dieser Beziehung aussteigen, um mich vor ihrem allumfassenden Zugriff zu lösen.
Wir sind übrigens bis zuletzt gute Freunde geblieben, obwohl ich sie, als sie geheiratet und zwei Kinder geboren hat, sehr wenig gesehen hab’. Sie ist vor einigen Jahren an einer heimtückischen Krebserkrankung gestorben. Noch während ihrer letzten Tage hab’ ich im Krankenhaus eine ihrer abgemagerten Hände gehalten und ihr – auf ihr Verlangen hin – von unseren gemeinsamen Jahren erzählt, von jener Zeit, als sie unbeschwert glücklich war. Die Erinnerung an sie, auch die an ihre müde Hand, als ich sie zum letzten Mal gesehen hab’, möcht’ ich keineswegs missen!
Sie fragen nach den beiden verbliebenen Spitzen? Nun, die grün-blau-schwarze Spitze hier gehört zu einer etwas mißglückten Beziehung mit einer jungen Frau, die nur Monate vorher von dem Mann, den sie offensichtlich sehr geliebt hat, verlassen worden ist. Die damit verbundene Kränkung hat unser Verhältnis ziemlich belastet. Manches Mal hab’ ich sogar den Eindruck gehabt, als wolle sie sich für ihre Enttäuschungen an mir rächen. Obwohl ich sie ob ihres eindrucksvollen Äußeren sehr verehrte, konnte unsere Beziehung nicht von Dauer sein, konnten wir kein unbeschwertes gemeinsames Leben führen. Sie benötigte mehr Abstand zu ihrem vorangegangenen Verhältnis. Leider ist auch sie bereits verstorben. Sie fiel einem Verkehrsunfall zum Opfer.
Die allerletzte Spitze, begrenzt von roten, blauen und schwarzen Seitenflächen, hat eine ganz besondere Bewandtnis: Sie soll mich an die vielen glücklichen Momente im Zusammenleben mit meiner Frau erinnern. Auch, um gelegentlich die gewohnten Alltagsgleise des Zusammenlebens zu verlassen, schließlich sind wir jetzt bereits viele Jahre miteinander verheiratet. Momente wie das unendliche Glücksgefühl, das sich bei der Geburt unseres ersten Kindes einstellte, oder, wie die Erleichterung, als die Kinder alle Schulen mit einigem Erfolg beendet hatten, sollen in Erinnerung gerufen werden.
Wie Sie sehen, ist mein eigenartiger Tetraeder, den Sie eben bewundert haben, nicht nur ein Objekt zum unbewußten Spielen, wie man vielleicht glauben könnte, sondern dient dazu, vier ganz besonderer Frauen zu gedenken“.
© Peter Weinberger 2015