Eine Frau im Halbkreis

   
   

Aristide Maillol, Sommer (Detail), 1911

   
   
   
   
   

 
 
 
Die Frau aus Hampstead
     
Jungfrau (mit Kind, Detail),
französisch, 1500-1525
   

Die englische Zeitschrift Philosophical Magazine, 1792 im Zuge der Französischen Revolution gegründet, ist das älteste, noch immer erscheinende naturwissenschaftliche Journal. Der Name der Zeitschrift erinnert daran, daß bis in das 19. Jahrhundert Physik und Chemie als „experimentelle Philosophie bezeichnet worden sind.

1925 erschien in dieser Zeitschrift ein bemerkenswerter Beitrag, bemerkenswert deshalb, da als Verfasser(in) eine gewisse Mrs. Ruby V. Jolowicz, née Wagner, M.Sc., angegeben und, statt wie üblich der Name einer Institution bzw. Universität, ihre Privatadresse angeführt ist: 9 Ferncroft Avenue, Hampstead, N.W.3 (London). Dem seinerzeitigen Stil der Zeitschrift entsprechend wird ihr Name, Mrs. R.V. Jolowicz gemeinsam mit den ersten Worten des Titels ihres Beitrags auf allen rechten Seiten wiederholt. Die Arbeit selbst behandelt ein zum damaligen Zeitpunkt sehr relevantes Thema in der Experimentalphysik, nämlich ein typisches spektroskopisches Problem.

Nun war es bis in die Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts durchaus üblich, bei Autorinnen ein Miss dem Namen voranzustellen, insbesondere, wenn der Betreuer der Arbeit, meist ein Professor, als Autor mitgenannt wird. Sehr oft war dies ohnehin nicht notwendig, da es bis dahin kaum Physikerinnen oder Chemikerinnen gegeben hat.

Ruby Jolowicz scheint jedenfalls die einzige, offensichtlich verheiratete  Frau gewesen sein, die je als Alleinautorin im Philosophical Magazine unter ihrer Privatadresse publiziert hat. Außer ihrem Namen und der von ihr angegebenen Adresse ist nichts weiter über diese Frau bekannt. Sie taucht in keiner weiteren Publikation auf.

Wer war Ruby Jolowicz? Ist es wirklich hoffnungslos, etwas mehr über sie oder zumindest über ihr Umfeld zu erfahren? Der einzige weitere schriftliche Anhaltspunkt ist die Einreichungsart, da Arbeiten nur über einen anerkannten Universitätsangehörigen, möglichst von einem Fellow of the Royal Society (F.R.S.), der für die Richtigkeit und Originalität bürgt, vorgelegt werden konnten.

In Rubys Fall war es ein gewisser Prof. Wilson, oder, wie es im Original heißt: „Communicated by Prof. Wilson, F.R.S.. Er scheint eine für England eher ungewöhnliche Karriere durchlaufen zu haben. Nach Absolvierung einer Dorfschule im Nordwesten von England, in Cumberland, studierte er mittels eines Stipendiums zunächst in einem landwirtschaftlichen College Agrarwissenschaften sowie aus Interesse privat Mathematik. Danach war er für eine Weile Schullehrer. In dieser Zeit lernte er Deutsch und übersiedelte anschließend als Lehrer an die Berlitz School of Languages, u.a. in Köln. Ab 1902 nahm er ein Studium der Physik an der Universität von Leipzig auf, das er mit einem Doktorat abschloß. Zurück in England, zunächst am King’s College in London tätig, wurde er schließlich 1921 Professor für Physik am Bedford College, London.

Hier beginnt sich der Kreis zu Ruby Jolowicz zu schließen, denn das Bedford College war eine ganz spezielle Institution. Ursprünglich 1849 privat gegründet, um Frauen eine liberale Ausbildung zu ermöglichen, entstand über die Jahre hinweg ein College für Frauen, das Anfang des 20. Jahrhunderts Teil der Universität von London wurde.

 Ab 1913 bezog das Bedford College ein neues Areal im Regent’s Park. Übrigens trotz wütender Proteste der Anrainer und sogar bissiger Anfragen im Parlament. Der Regent’s Park ist nicht allzuweit von Hampstead entfernt. Es ist daher durchaus möglich, daß eine Rubina Wagner am Bedford College bei Prof. Wilson Physik studiert hat.

Vielleicht hat sie noch vor Abschluß ihres Studiums geheiratet, vielleicht wurde sie verheiratet. Den Abschluß ihrer Arbeiten konnte sie damals nur als Privatperson erreichen. Vielleicht ist sie täglich auf der Finchley und Adventure Road in Richtung Regent’s Park zu Fuß unterwegs gewesen, um zu ihrem Laborplatz im Bedford College zu gelangen.

Vielleicht hat die eigene, ungewöhnliche Biographie ihrem Lehrer, Prof. Wilson, den Mut gegeben, moralische Dünkel zu überwinden und eine verheiratete Frau als Mitarbeiterin zu beschäftigen.

Vielleicht hatte Ruby ihren Traum, Wissenschaftlerin in einer akademischen Institution zu werden, aufzugeben, weil sie der Alltag mit kleinen Kindern und dem Führen eines Haushalts eingeholt hat. Vielleicht blieb ihre Zeit am Bedford College und die Beschäftigung mit der von ihr geliebten Physik der einzige Höhepunkt ihres Lebens. Bevor der soziale Druck in diesem eher vornehmen Teil Londons sie zurechtgebogen oder zerbrochen hat … .

Vielleicht, vielleicht … . Sicher ist nur, daß sie für eine Zeitlang in Hampstead gelebt hat.


  ©  Peter Weinberger 2015