Stehende Frau, Bronze, Detail, spät-minoische Kultur, Kreta, 1600-1450 v.u.Z.
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Als Kind konnte sie es ihren Eltern nicht verzeihen, daß sie für sie den ausgefallenen Namen Walburga gewählt hatten. Warum konnten ihre Eltern ihr nicht einfach einen schlichten, gängigen Namen wie Anna oder Elisabeth geben? Bereits ab dem Kindergarten begann sie ihren Namen zu hassen. Manche Kinder nannten sie Wally, andere wiederum Burgl, weil sie mit dem länglichen Namen Walburga nichts anzufangen wußten. Für sie war Wally ein Name für ein Pferd, und Burgl erinnerte sie am ehesten an eine Bäuerin in einem Bergbauerndorf hoch oben im Gebirge.
Viel besser wurde es dann in der Schule auch nicht. Da ihre Eltern sie für den Religionsunterricht angemeldet hatten, mußte sie natürlich auch daran teilnehmen. Gleich am ersten Tag hatte sich der Religionslehrer bemüht, den Kindern die Bedeutung ihrer Namen aus christlicher Sicht zu erklären. Bei Michael oder Veronika klang das ja noch ganz vergnüglich. Von ihrem Namen war er sofort begeistert, weil in jedem neuen Jahrgang alle Kinder immer wieder nur Michael und Veronika hießen. Walburga, machte er der Klasse klar, steht für eine ganz besondere Heilige, nämlich die Hl. Walpurga, eine Äbtissin im 8. Jahrhundert. Da ihr Ehrentag der 1. Mai ist, ist dieser Tag ein ganz besonderer Tag im Kalender. Das war alles, was er über die Hl. Walpurga zu berichten wußte. Er fügte noch hinzu, daß es in Bayern ein nach ihr benanntes Kloster gibt. Komisch, hat sie sich damals gedacht, bei uns zu Hause hat der 1. Mai eine ganz andere Bedeutung, denn da nehmen wir alle an der Maidemonstration teil. Von Heiligen ist dabei nicht die Rede.
Später dann in der Mittelschule lautete ihr Spitzname Walpurgans. Sie konnte sich nur aussuchen, ob die Betonung auf Gans oder Purgans, nämlich Abführmittel, lag. Als sie endlich die Mittelschule mit einem sehr passablen Zeugnis abgeschlossen hatte, war ihre Unzufriedenheit mit ihrem Namen auf dem Höhepunkt angelangt.
Das änderte sich schlagartig, als sie auf der Universität einen Kollegen kennenlernte, der ein Jahr vor ihr Jus inskribiert hatte. Er nannte sie gleich von Anfang an Hexerl. Befragt, ob sie tatsächlich so häßlich und abstoßend wie eine Hexe ausschaue, meinte er amüsiert: „Weißt du denn nicht, was sich hinter deinem Namen verbirgt? Offensichtlich hat euer Deutschlehrer, aus Angst vor unangenehmen Fragen, Goethe und den Bocksberg nicht erwähnt. Ich kann mir schon vorstellen, in einer reinen Mädchenklasse, in der jede einzelne heutzutag natürlich emanzipiert ist, wäre das Thema Hexen sofort in eine heftige Diskussion über die gesellschaftliche Rolle von Frauen in den vergangenen Jahrhunderten ausgeartet.“
„Also, paß auf!“, dozierte er weiter: „Die Walpurgisnacht, die am 29. April gefeiert wird, vereint viele verschiedenartige Aspekte. Vielleicht hat die Kirche nur versucht, alte heidnische Gebräuche um den Frühlingsbeginn und das Wiedererwachen der Natur mit dem Hl. Walpurga-Tag zu überdecken. Nach wie vor gibt es einen Maibaum. Ursprünglich sollte es eine Birke, also ein schnell wachsender Baum, sein. Den Maibaum kann man sowohl als Fruchtbarkeitssymbol, nämlich als Symbol für einen erigierten Penis, betrachten, oder auch nur als ein heidnisches Zeichen eines Volksfestes als Freude auf die kommende schöne Jahreszeit, in Erwartung heller Tage. Früher hieß es sogar, daß – verzeih, wenn das jetzt etwas anstößig klingt – ein Koitus frisch Vermählter auf dem Boden eines Ackers auch diesen fruchtbar machen werde.
Von dem ursprünglichen bäuerlichen Volksfest ist nur der übliche Kirtagsrummel übergeblieben, halt so eine Art Freiluft-Feuerwehrball. Bevor es allerdings zum allgemeinen Tanz kommt, muß üblicherweise noch den christlichen Traditionen mit einer Prozession Rechnung getragen werden. Das Maifest und der Maibaum sind genauso wie die Walburgisnacht ein Überbleibsel aus der Urzeit. Vielleicht gibt Strawinskys Le Sacre du Printemps noch am besten das Urzeitliche am Maifest wieder.
Eine Facette der Walpurgisnacht kennst du offensichtlich nicht, denn sonst hättest du nicht so verdutzt dreingeschaut, als ich dich Hexerl nannte. Also, die Walburgisnacht war seinerzeit in der Vorstellung vieler – manche glauben es wahrscheinlich heute noch – die Nacht des Hexensabbats, nämlich jene Nacht, in der sich die Hexen auf dem Brocken treffen, um wie in Trance um magische Feuer zu tanzen und mit dem Teufel Unzucht zu treiben.
Hexen, so lautete die allgemeine Meinung fast bis ins 18. Jahrhundert, verfügen über magische Kräfte. Alles, was nicht mit rechten Dingen zuging, mußte einfach verhext sein. Bis in die heutigen Zeiten hat sich übrigens dieser Aberglaube als Wortwendung erhalten: Das muß verhext sein, heißt es noch immer, wenn trotz aufrechten Bemühens etwas immer wieder danebengeht. Also, wenn du willst, über Hexen und Hexenglauben kann ich dir noch viel mehr erzählen.“
Das war auch schon das Ende ihrer kurzen Bekanntschaft mit dem hexenkundigen Kollegen, denn erstens paßte ihr nicht, daß er sie stets Hexerl nannte, und zweitens widerstrebten ihr seine Annäherungsversuche.
Allerdings, das Thema Hexen ließ sie nicht los, sie fühlte sich geradezu verpflichtet, ihrem Namen Walburga gerecht zu werden. Wenn ich schon mit Hexen in Zusammenhang gebracht werden kann, beschloß sie, dann sollte ich auch etwas mehr über sie wissen. Vor allem die Frage, welche Frauen der Hexerei bezichtigt wurden, beschäftigte sie schon aus weiblicher Solidarität am meisten. Also, dachte sie sich, es waren insbesondere Frauen, deren äußere Gestalt Anlaß für Abscheu bot. Dazu gehörten sicherlich Bucklige, Schielende, körperlich Behinderte und natürlich Rothaarige. Und selbstverständlich auch Frauen, die über ein besonderes Wissen verfügten, das von den anderen als magisch empfunden werden mußte. Das Wissen um die Heilkraft von Pflanzen, aber auch um deren Giftigkeit, galt zu allen Zeiten als ungewöhnlich. Bestimmte Kräuter nur zu bestimmten Tageszeiten oder Mondphasen zu sammeln, gehörte garantiert zu den seltsamen Gebräuchen von Kräuterweibern. Vielleicht wurde auch so manche junge Frau von verschmähten Liebhabern der Hexerei bezichtigt.
Aber, überlegte sie, nachdem sie einiges über Hexengesetze gelesen hatte, warum heißt es eigentlich Hexensabbat? An dieser Bezeichnung mußten wohl der Antijudaismus des Mittelalters und die Judenverfolgungen während der Kreuzzüge ihren Anteil haben. Und natürlich die wahnhafte Angst der Kirche vor Häresien, von denen es ja im Mittelalter und auch später noch eine Vielzahl gab. Genüßlich verbrannte man alle, die nicht ins Bild paßten oder gar die weltliche Macht der Kirche anzweifelten. Ob Hexen, Juden oder Häretiker, sie alle übergab eine zum Teil selbsternannte Obrigkeit der „reinigenden Kraft“ des Feuers.
Endlich fiel ihr ein, sich auch über die Bedeutung und den Ursprung ihres Namens zu informieren, denn der Bezug auf die Hl. Walpurga schien ihr zu dürftig zu sein. Wie sich herausstellte, handelt es sich um einen altdeutschen Namen, der ursprünglich „walten“ und „Burg“ symbolisieren sollte. Zufällig stieß sie dabei auch auf die Geschichte einer Walpurga Hausmännin, einer Hebamme zu Ende des 16. Jahrhunderts, der man Hexerei, Vampirismus und Mord an Kindern zur Last gelegt hatte. Unter Folter gestand sie u.a., mit dem Teufel Geschlechtsverkehr getrieben und danach gebratene kleine Kinder verspeist zu haben. Aus Solidarität mit dieser armen, geschundenen Frau desselben Namens fühlte sie sich plötzlich als legitime Nachfahrin aller jener Frauen, die dem christlichen Aberglauben von Hexen zum Opfer gefallen sind, und zu deren Rehabilitierung sie zu kämpfen bereit war. Als zukünftige Rechtsanwältin. Und sie dankte ihren Eltern nachträglich, daß sie ihr den geschichtsträchtigen Namen Walburga gegeben haben.
© Peter Weinberger 2015