Balkonfigur, Noto, Sizilien, Villadorata-Palast, 18. Jahrhundert
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Wie jeden Schabbat-Abend saßen wir alle um einen Tisch herum. Eigentlich ist es eine Ansammlung von Tischen, die zu einer U-förmigen Tafel zusammengestellt wird. Ein bißchen schmierig und abgenützt sind die Tischtücher schon, und nicht alle Tische sind gleich hoch, die Küche in der Taverne besitzt allerdings einen recht guten Ruf: Stets sind die Speisen mit frischen Kräutern gekocht und bestens gewürzt. Sogar der obligate Hammelbraten kann für sich beanspruchen, nicht allzu fett zu sein. Die berechtigte Hoffnung auf ein mehr als akzeptables Mahl wog bisher die etwas schäbige Ausstattung durchaus auf.
Also, da saßen wir wieder einmal zusammen: Entlang der einen äußeren Seite des U die Frauen, entlang der anderen die Männer. Zugegebenermaßen ein bißchen traditionell die Anordnung, aber ganz praktisch, denn so kann man mit den anderen Frauen plaudern, ohne ununterbrochen von den Männern niedergeredet zu werden.
Wie? Sie wissen gar nicht, wer wir sind und von wem die Rede ist? Also, das ist eigentlich sehr einfach! Mein Mann, der stets mir gegenüber sitzt, das ist der Joshuah ben Jussuf.
Doch, doch, den kennen Sie: Das ist der, der öffentlich für einen friedlichen Widerstand gegen unsere Besatzer auftritt. Sehr oft spricht er auch von einer neuen Zeit, die anbrechen wird, nur mißverstehen ihn die meisten, weil sie so sehr in der Gegenwart verhaftet sind und nicht jenseits ihres Alltags denken können.
Ja, natürlich! Sie haben vollkommen recht: Viele nennen ihn Wunderrabbi, obwohl er erstens gar kein Rabbiner ist, und zweitens seine sogenannten Wunder stets ganz ordinäre, natürliche Ursachen haben. Er ist halt fest davon überzeugt, daß manches Mal Kranken bloß die richtigen Worte in ihrem Leid helfen. Aber Sie wissen ja, wie das ist: Die Leute glauben viel lieber dem Schnickschnack derer, die sich zu Unrecht Arzt oder Heiler nennen.
Die Männer sind übrigens alle Freunde meines Manns, einige von ihnen sind mit Cousinen von mir verheiratet, das heißt, sie gehören also zur Familie.
Auf meiner Seite der Tafel, zu meiner Linken, sitzen für gewöhnlich Sarah, die Ältere, die Rebecca aus Sichem, Tamara, die Rote, die Naomi und die Ruth aus Beer Scheba. Da wir zwei Sarahs haben, nennen wir die Frau von Simon einfach Sarah, die Ältere, weil der Simon auch schon etwas betagt ist. Ja, und die rote Tamara heißt so, weil sie tatsächlich ein dichtes Gestrüpp von roten Haaren besitzt. Dafür hat die Tamara, die Schwarze, die meistens rechts von mir Platz nimmt, kohlrabenschwarze, lange Haare. Ich kann Ihnen sagen, die schwarze Tamara ist eine richtige Schönheit. Ihr Mann, der Jakobus ben Alphäus, hat sich ganz schön anstrengen müssen, um sie für sich zu gewinnen. Die längste Zeit hat sie nämlich von ihm nichts wissen wollen. Irgendwie hat sie geglaubt, zu Höherem auserkoren zu sein. Allerdings fragt man sich, was heutzutage dieses sogenannte Höhere eigentlich ist. Die berühmten alten Familien, wie zum Beispiel die angeblichen Nachfahren von König David, sind entweder schon längst ausgestorben oder so verarmt, daß es wenig erstrebenswert ist, ihnen, die ohnehin nur arrogant sind, anzugehören. Und die Herodes-Familie – wie wir alle wissen –war immer schon zum Kotzen. Letztlich hat sie’s doch eingesehen, daß der Jakobus gar keine so schlechte Partie war.
Übrigens habe ich vergessen, die Anat zu erwähnen, die stets links von mir sitzt und zwar immer gegenüber dem Andreas. Die zwei sind nämlich ganz schön ineinander verschossen. Kaum läßt man sie allein, fangen sie schon zum Turteln an. Und nur dann, sobald der Andreas am Männertisch zu einem längeren Wortschwall ausholt, tratscht die Anat auch mit ihren Nachbarinnen, vorzugsweise mit der Ruth aus Beer Scheba. Das ist eine kleine, fast winzige, unheimlich hübsche Person mit ganz dunklem Teint, um nicht zu sagen, sie ist fast schwarz. Aber Energie hat die Ruth für drei. Ihr Mann, der Bartholomäus – Sie entschuldigen schon, wenn ich die jetzt sehr in Mode gekommenen lateinisierten griechischen Namen verwende –, zuckelt immer drei Schritte hinter ihr her. Zum Lachen hat der zu Hause vermutlich wenig. Wenn die sich etwas vornimmt oder einbildet, dann hält sie nichts, absolut nichts zurück, dies auch zu Ende zu bringen. Aber vielleicht sind dort unten in der Wüste, in Beer Scheba, alle so. Vielleicht gehören Mut und Entschlossenheit dazu, in einer Wüstenstadt wie Beer Scheba zu leben.
Naomi, zu meiner Linken, die Frau vom Philippus, spricht kaum mit ihren Nachbarinnen oder anderen Frauen auf unserer Seite der Tafel. Dafür hört sie aufmerksam zu, was die Männer so von sich geben. Manches Mal hat es den Anschein, als wünschte sie, an deren Gesprächen teilnehmen zu dürfen. Man sieht förmlich, daß sie mitunter etwas loswerden möchte, aber sich nicht traut, sich in das Männergespräch einzumischen.
Die Chava und die Migdal, die fast immer rechts von mir sitzen, sind übrigens Cousinen von mir. Wir sind zusammen aufgewachsen. Die Migdal ist etwas älter als ich, die Chava ist um zwei Jahre jünger. Wenn ich sage, daß wir zusammen aufgewachsen sind, dann war es wirklich so. Wir haben alles gemeinsam gemacht: Herumgetollt, beleidigt gespielt und natürlich oft genug unsere jeweiligen Eltern verärgert.
Sie als Frau wissen sicherlich selbst am besten, wie das hier in diesem Land ist: Mädchen und jungen Frauen wird kaum ein Platz in der Gesellschaft eingeräumt, noch irgendeine Bedeutung zugemessen. Pausenlos heißt es: Das darf man nicht machen, und das schon gar nicht. Offensichtlich besteht die gängige Meinung bloß in der Ansicht, erwachsen gewordene Mädchen seien lediglich dazu da, zum geeigneten Moment ihre Beine zu öffnen, um für den notwendigen Nachwuchs zu sorgen. Hören Sie sich doch die Alten an: Die reden bloß von dem um sich greifenden Sittenverfall und von uns als schamlosen Weibern, die in der Öffentlichkeit überhaupt nichts zu suchen haben . . . .
Die Migdal und die Chava sind – wie ich Ihnen schon erzählt habe – mit Freunden meines Mannes verheiratet, die Migdal mit dem Thomas, die Chava mit dem anderen Simon.
Zu unserer Damenrunde gehören noch Sarah, die Jüngere, und die Apollonia, die ebenfalls meistens rechts von mir sitzend. Die Sarah ist eine sehr bekannte Sängerin und Tänzerin, die eine Gesellschaft mit ihren Liedern so richtig mitreißen kann. Wenn die mit ihrer Tanztrommel auftritt, dann schmelzen die Männerherzen nur so dahin. Sie muß beim Singen und Tanzen bloß ein wenig mit ihren Brüsten wackeln, und schon ist jegliche Mieselsucht vertrieben. Zugegeben, sie hat auch einiges zum Wackeln. Liiert ist sie übrigens mit dem Thaddäus, der deswegen von vielen beneidet wird.
Der Spitzname „die Griechin“ für die Apollonia hat sich nicht bloß zufällig ergeben. Sie ist tatsächlich eine Griechin und mit dem Judas verheiratet, der übrigens aus dem fernen Susa stammt, aus einer Familie, die sich seinerzeit nicht für eine Rückübersiedlung in unser Land entschieden hatte. Ich muß gestehen, ich bewundere die Apollonia ziemlich. Es gibt kaum eine Sprache, die sie nicht perfekt spricht. Selbst in unserer lokalen Umgangssprache schleicht sich bei ihr kein fremdländischer Akzent ein. Wegen ihrer Sprachkenntnisse holt man sie gelegentlich, wenn es darum geht, Verhandlungen zu führen, in denen sich die Teilnehmer nicht auf eine gemeinsame Sprache einigen können.
Sie fragen, was wir Frauen so untereinander reden? Um ehrlich zu sein, einige von uns lamentieren ununterbrochen über ihre Kinder und über die Mühsal des Alltags. Aber das ist eigentlich selbstverständlich, weil sie den ganzen Tag mit ihren Kindern beschäftigt sind. Natürlich wird auch das Tagesgeschehen kommentiert und die Politik an sich. Und gerade dabei sind wir sehr oft anderer Ansicht als unsere Männer mit ihren politischen Träumen und Illusionen über eine wiederkehrende Unabhängigkeit unseres Landes. Seien wir doch ehrlich! Verglichen mit der Herodeszeit ist jetzt alles ausgesprochen ruhig und sicher. Ein wesentlich größerer Wirtschaftsraum steht uns offen, und in vielen Belangen haben sich die langsam um sich greifenden griechischen Sitten zivilisierend auf unser Land ausgewirkt. Sicherlich, zur Zeit sind wir bloß eine kleine, unbedeutende Provinz, aber es lebt sich jetzt viel leichter als früher.
Mich persönlich stören die Statuen ihrer Götter überhaupt nicht. Ich weiß, ich bin da nicht derselben Meinung wie mein Mann, aber wozu auch, ich hänge auch keinen sinnlosen Träumen nach. Noch dazu gefährlichen, die jederzeit unseren jetzigen Machthabern ein Dorn im Auge sein können.
Glauben Sie mir, es ist mutiger, von Zeit zu Zeit ins Tal der Leprakranken zu steigen, um sie mit Nahrung und Bekleidung zu versorgen, als sich gegen die römische Herrschaft aufzulehnen. Die wird uns noch einige Zeit erhalten bleiben, so lange jedenfalls, bis sich die nächsten Besatzer, welcher Art diese auch sein mögen, breitmachen. Die Leprakranken allerdings werden immer noch dasein, wenn die Römer schon längst wieder verschwunden sein werden.
Selbstverständlich können Sie den nächsten Schabbat mit uns feiern! Nicht immer kommen alle Frauen, schließlich kann wieder einmal ein Kind krank sein. Und Platz für einen weiteren Gast ist stets an unserem Tisch. Sollten Sie vor mir eintreffen, sagen Sie einfach, die Miriam aus Magdala habe Sie eingeladen mitzufeiern.
© Peter Weinberger 2015