Gislebertus, La Tentation d’Ève, Detail, Cathédrale Saint-Lazare d’Autun, Département Saône-et-Loire, 12. Jahrhundert
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Jeden Tag zähle ich nach dem Aufstehn die Altersflecke auf meinen Handrücken. Sind es wirklich die selben Hände, die seinerzeit mit einem in der Schule gestohlenen Stück Kreide Felder zum Tempelhupfen auf den Asphalt im Hof gezeichnet haben? Erde, Hölle und Himmel? Und jeden Tag atme ich auf, wenn es nicht mehr geworden sind. Der Fleck da oben, unterhalb des rechten Zeigefingers, der erzählt mir die Geschichten von damals, von mir als Kind. Mit beiden Füßen im Feld Erde beginnen, dann zweimal auf einem Bein hüpfen, und schon rückt man der Hölle oder dem Himmel näher. Noch einmal mit einem Bein hüpfen, und man konnte den Sprung in den Himmel wagen. Nach eine anderen Anordnung mußte ein flacher Stein in ein bestimmtes Feld geworfen werden, in das gehüpft werden sollte. Die Rosi von der Nachbarstiege und ich hatten jede Menge von Regeln und Geboten, wie das Tempelhupfen vor sich zu gehen habe.
Den Hof in unserem Bau empfanden wir als eine Oase in einer feindlichen Umgebung. Feindlich, weil gelegentlich eine Bubenbande aus dem anschließenden Hof auftauchte und uns Mädchen an den Haaren riß und herumstieß. Manches Mal kassierten wir auch blaue Flecke, die uns heilige Rache für die entstandene Schmach schwören ließen. Wir wußten, zum Beispiel, nur zu gut, daß in einem Eck des anderen Hofs eine Reihe von Koloniakübeln stand. Sehr zum Ärgernis der Hausmeisterin benutzte die Bande dieses Eck fast täglich zum Pinkeln.
Gelegentlich hinüber in den anderen Hof schleichend, wagten wir, uns bei den Kübeln hinzuhockerln und den Dingen freien Lauf zu lassen. Begeistert schauten wir dann auf das kleine Bächlein, das sich langsam über den Asphalt ausbreitete, wohlwissend, daß die entstandene Schweinerei der Bubenbande in die Schuhe geschoben und vielleicht sogar elterliche Watschen hervorrufen würde.
Die Rosi hatte eine Springschnur, die wir mit einem Ende an einer Bank befestigten, und schon konnten wir abwechselnd über die Schnur springen. Tap, tap, klapperten unsere Sandalen, tap, tap. Die Bank war Teil der Hofausstattung, genauso wie die Klopfstange, an der täglich Teppiche mit einem Pracker ausgeklopft wurden. An dieser Klopfstange hingen wir oft wie kleine Säcke, weil unsere dünnen Ärmchen nicht kräftig genug waren, uns hinaufzuziehen.
Manches Mal saßen wir auch nur auf der Bank und erzählten uns flüsternd Greuelgeschichten. Über die Frau Pospischil auf unserer Stiege zum Beispiel, weil die einen ganz dicken Hals gehabt hat, der schwammig herunterhing, oder über Rosis Nachbarn, den Herrn Gstettner und seine Beinprothese. Er soll sein Bein gleich zu Beginn des Krieges verloren haben, behauptete die Rosi. Manche Mitbewohner sind ihm, dem ehemaligen Blockwart, immer noch ängstlich aus dem Weg gegangen, vor allem, wenn er wieder einmal besoffen im Stiegenhaus randaliert hat. Die Angst vor einem Blockwart schien sich selbst Jahre nach Kriegsschluß fortzusetzen. Und es gruselte uns gewaltig vor den Kesselflickern und Messerschleifern, die es seinerzeit noch gegeben hat. Die sollen kleine Mädchen verschleppen und fürchterlich mißhandeln, hieß es. Ich weiß bis heute nicht, wer uns diesen Bären aufgebunden hat. Wahrscheinlich jene kinderlose Mitbewohnerin, die des öfteren neidisch unser fröhliches Treiben beobachtet hat.
Eigentlich ist dieser Altersfleck mein Lieblingsfleck, da er mich immer in eine unbeschwerte Zeit zurückführt. Leider sind Rosis Eltern und mit ihnen Rosi später in einen anderen Bezirk übersiedelt. Meine Erinnerungen an sie beschränken sich daher im wesentlichen auf das Tempelhupfen und das Schnurspringen.
Der Altersfleck in der Mitte meines rechten Handrückens erinnert mich an meine ersten Schuljahre, an den Beginn meiner Volksschulzeit. Ich sehe immer noch die alten Tische und Bänke vor mir. Die Tische hatten an der Vorderseite eine Rille und ein vorgefertigtes Loch für ein Tintenfaß. Es war gar nicht so einfach mit einem Federstiel zu schreiben und den auch in jene Rille zu legen, wie uns aufgetragen wurde. Zu oft patzte die Feder, und man mußte vorsichtig mit einer Ecke des Löschpapiers einen solchen Batzen aufsaugen, um einen noch größeren Batzen zu vermeiden. Ich sehe das lackierte Streifenmuster meines Federstiels noch heute vor mir … . Immer wieder wurde kontrolliert, ob wir ja keinen „Faulenzer“, wie wir einen Linienspiegel nannten, verwenden, da wir sonst nie gerade in einer Zeile schreiben lernen würden.
Die Tische und Bänke hatten offensichtlich bereits viele Generationen von Kindern vor uns benutzt: Tintenflecke, mit Taschenmessern eingeschnittene Kerben und altersbedingter Dreck gehörten zu den gängigen Verzierungen. In der Klasse selbst stand ein Gußeisen-Ofen, ein sogenanntes Kanonenöferl, die Wände waren kahl, lediglich ein Kreuz befand sich oberhalb der Tafel und, wie eine gefährliche Warnung, ein Photo, vermutlich eines des Bürgermeisters, hinter dem Lehrertisch. Zu Beginn des Unterrichts hatten alle zu beten, egal ob katholisch oder nicht. Auf vorhandene Minderheiten wurde keine Rücksicht genommen.
Unmittelbar neben diesem Altersfleck verweist ein weiterer mich an die sommerlichen Ferienzeiten, die manches Mal ewig zu dauern schienen. Die Straßen dampften vor Hitze, an manchen Tagen wurde der Asphalt so weich, daß man mit einer Zehe ein Loch hineinbohren konnte. Selbst die Bubenbande erwies sich in den Ferien als etwas aufgeschlossener, auch deswegen, weil ich gut im Laufen war und im Sommer immer abgelegte kurze Hosen meines älteren Bruders anhatte. Ich sah wie ein Bub aus, denn lange Haare durfte ich leider nie haben, so sehr ich mir das auch wünschte. Lange Haare seien unpraktisch, behauptete meine Mutter immer, und lästig beim Waschen.
Beliebt war bei uns Kindern, Leute im Kellerabgang zu erschrecken. Ganz still sind wir dort in einem Eck gehockerlt und haben auf unsere Opfer gewartet. Sobald der dem Stiegenaufgang Nächste flüsterte: „Kocks, da kommt wer“, haben wir uns ganz an die Wand gedrückt. Mitunter ließ zu unserer Freude unser Opfer vor Schreck ein Flasche oder ein Marmeladeglas fallen. Wenn man sich dann nicht schnell genug vorbeidrücken konnte, hat es mitunter Watschen gegeben. Klarerweise sind derart geglückte Streiche noch tagelang unser Gespräch gewesen.
Der Altersfleck hier erinnert mich an eine ganz andere Zeit, als wir nämlich alle in der Pubertät steckten und sich Buben und Mädchen wieder für ein paar Jahre entfremdeten. Selbstverständlich war das auch in unserer Ferienbande der Fall, jedoch nur teilweise. Die Bande hatte sich nämlich in zwei Teile gespalten, wobei nur ein Teil, der weitaus kleinere, mich nach wie vor akzeptierte, vermutlich um zu erfahren, was denn so Besonderes an Mädchen dran sei. Daß wir nicht im Stehen pinkeln und im Kreis herumpischen konnten, war allen klar, der Rest verblieb allerdings ein ungelüftetes Geheimnis.
Ich erinnere mich noch genau – ich muß damals ungefähr 13 Jahre alt gewesen sein – als mich einmal einer von ihnen fragte, ob ich auch schon so einen Busen wie seine ältere Schwester habe. Natürlich, hab’ ich ganz voller Stolz erwidert. Daraufhin hat er eine Hand auf meine Brust gelegt und dann ganz enttäuscht gemeint: „Aber die ist ja ganz weich. Ich hab’ geglaubt, Dutteln sind hart und spitz.“ – „Tut mir leid“, hab’ ich ihm geantwortet, „aber so ist es garantiert bei allen Frauen und daher auch bei deiner Schwester.“
Ich erinner’ mich deswegen so genau an diese kurze Szene, weil es das erste Mal war, daß ein Fremder mich berührt hat. In den folgenden Sommerferien hat es ausschließlich nur mehr Mädchen um mich gegeben, aber geträumt hab’ ich noch des öfteren von jenen ersten Empfindungen, die ich damals verspürt hab’.
Der vierte Fleck auf meiner rechten Hand führt mich zurück in die Zeit meines Frühlingserwachens, läßt mich erneut Liebeshoffnungen und Enttäuschungen verspüren und an Liebhaber denken, die sich noch immer gelegentlich in meine Träume verirren. Diese Träume möcht’ ich keinesfalls missen. Sie sind ein wesentlicher Teil meines Unterbewußtseins geworden.
Die Flecke auf meiner linken Hand sind größtenteils weniger erfreulich. Dieser da, zum Beispiel, erinnert mich an das Kind, das ich verloren hab’. Ich war das erste Mal nach unserer Hochzeit schwanger und hab’ mich auf das kommende Kind, auf das Lebewesen, das in meinem Bauch wuchs, gefreut. Zeiten von Niedergeschlagenheit folgten; das Gefühl, als Frau versagt zu haben. Trotz aller liebevollen Bemühungen meines Mannes bin ich damals in tiefe Depressionen verfallen. Soll ich es überhaupt riskieren, ein weiteres Mal schwanger zu werden? Habe ich mich, kaum 30 Jahre alt, damit abzufinden, kinderlos zu bleiben? Es hat dann doch noch funktioniert, und ich hab’ sowohl einen Sohn als auch eine Tochter auf die Welt gebracht.
Dem unbeschreiblichen Gefühl zum ersten Mal ein von mir geborenes Kind in Händen halten zu dürfen, hab’ ich meinem größten Fleck zugeordnet. Danach sind die Jahre einfach verflogen. Irgendwie sind mir meine Kinder langsam entglitten, haben eigene Familien gegründet, und unsere Leben, das meines Mannes und meines, sind im beruflichen Alltag aufgegangen. Es schien alles gleichförmig, ungebrochen dahinzugehen. An manche Jahre kann ich mich gar nicht mehr erinnern, selbst wenn ich entsprechende Urlaubsphotos anschau, Photos von Orten, deren Namen ich vergessen hab’.
Ich hab’ noch weitere Altersflecke auf meiner linken Hand. Einer von ihnen widerspiegelt den Schock, der sich einstellte, als mein von mir überaus geliebter Vater gestorben ist. Damals glaubte ich, einen wichtigen Teil meiner selbst verloren zu haben. Der Gedanke, geliebte Personen sterben zu sehen, schien mir vorher unvorstellbar zu sein. Als kurz darauf auch meine Mutter verstarb und ich die Wohnung meiner Eltern auflösen mußte, bin ich dort tagelang gesessen und hab’ geweint. Nicht nur, weil es galt, Kleidungsstücke meiner Mutter oder meines Vaters herzugeben, sondern auch, weil ich plötzlich meine eigene Kindheit wiederentdeckt hab’. Die vielen Erinnerungsstücke, die die beiden von uns Kindern, von meinem Bruder und von mir, aufgehoben hatten, machten mir zum ersten Mal bewußt, wie sehr im Grunde genommen nebensächliche Dinge emotionale Inhalte haben können. Sogar meinen Federstiel habe ich in einer Lade gefunden. Ich bin davon überzeugt, daß er seit meiner Schulzeit nie wieder verwendet worden ist. Und dennoch: Für sie war es ein Stück jenes Kindes, das ihre Tochter einmal gewesen war. Blöderweise hab’ ich ihn Jahre später in einem Anfall von Räumsucht weggeworfen, nicht wissend, wie wichtig er mir einmal sein würde.
Leider blieb es nicht bei einem einzigen Erinnerungsfleck an Vergangenes, an Menschen, die ich noch immer vor mir sehen kann. Dieser Altersfleck da dient dem Andenken an meinen Mann, der vor ein paar Jahren plötzlich an einem Herzversagen verstorben ist. Nach seinem Tod allein geblieben, wurde ich eigentlich bloß immer nur älter. Meine Kinder hatten schon längst das Land verlassen, weil sie glaubten, in der Fremde bessere berufliche Bedingungen für sich und ihre Familien vorzufinden. Wie würde es ihnen ergehen, wenn sie einmal meine Wohnung auflösen müssen? Würden sie die selbe Art von Wehmut verspüren, wie ich seinerzeit in der Wohnung meiner Eltern?
Wie gesagt, jeden Tag in der Früh betracht’ ich meine Handrücken und zähle die sich darauf befindlichen Altersflecke. Es sind bisher keine neuen dazugekommen, keine, die mir ein weiteres Stück Vergangenheit in Erinnerung rufen. Meine Hände sind alt geworden, und dennoch: Es sind die selben Hände, die seinerzeit mit Kreide Muster zum Tempelhupfen angefertigt haben: Erde, Hölle und Himmel.
© Peter Weinberger 2015