APOGRAFFITI
Zwanzig unzeitgemäße Erzählungen
Ohne Spiegel ist weder Raum noch Zeit erfahrbar. Raum- und Zeitspiegel verwischen die Grenzen von Rationalität und Irrationalität: das gespiegelte Bild ist zu gleich rational und irrational, so wie die Geschichten in diesem Buch. Geschichten vermögen zeitliche Distanzen zu überbrücken, abzukürzen, aufzulösen. Die Unebenheit der Reflexionsflächen vermittelt Farbigkeit durch Unschärfe, eine Nähe zu weitentfernten Zeiten und Personen in merkwürdig entstellter Schrillheit, eben jene Imagination -- Verbildlichung -- einer schwer vorstellbaren Wirklichkeit, die sich beharrlich Alltagserfahrungen entzieht.
Inhalt:
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1 Die Martinskapelle
zu Assisi 3 |
Man schrieb den 26. März 1331. In einer eher schäbigen
Herberge, nahe der alles überragenden Burg der Stadt Assisi, wartete ungeduldig
ein älterer Mann auf die Neuankommenden. Immer wieder stand er auf, um vor die
Tür zu treten und entlang der steil nach unten führenden Gasse zu blicken. Doch
alles, was er sah, waren die sich aneinander drängenden Dächer Assisis. Die
Stimmen, die er vernommen hatte, gehörten zu Bürgern der Nachbarschaft. Endlich,
als bereits Dunkelheit sich über die Stadt ausgebreitet hatte, betraten drei
junge Männer die Herberge. "Na also, da seid ihr ja", rief der Mann und stand
auf, um sie zu begrüßen: "Ich habe schon den ganzen Tag auf euch gewartet." Mit
Wohlgefallen betrachtete er seine Gäste, insbesondere das Brüderpaar, von dem er
schon so viel gehört hatte. Das ist sie also, dachte er, während die Jungen von
ihrer Reise aus Siena erzählten, das ist die junge Generation, die dem alten
Duccio nachgefolgt ist. Sein eigener Lehrer, der Maestro Cimabue, fiel ihm ein.
Wie viel hatte sich seit diesen beiden geändert! Duccio und Cimabue gehörten
noch zwei von einander getrennten Welten an. "Wer von euch beiden ist Pietro?",
fragte er schließlich, sich an das Brüderpaar wendend. "Ich", lachte ihn einer
der Jungen an, "und das ist mein kleiner Bruder, der Ambrogio", obwohl ihn der
Besagte fast um einen Kopf überragte. "Und ich bin der Simone", fügte der Dritte
hinzu, "und, Gott sei Dank, nicht mit diesen beiden Wirrköpfen verwandt." Alle
lachten übermütig.
Die anderen Gäste in der Herberge musterten mißlaunig den Alten mit seinen
jungen Freunden.
"Wer ist denn der Alte?", fragte endlich einer von ihnen heimlich den Wirt. "Das
ist der Giotto di Bondone", antwortete dieser voll Stolz, so berühmte Leute zu
seinen Gästen zählen zu dürfen. "Und die anderen müssen wohl die Brüder
Lorenzetti sein und der Martini aus Siena, von denen es heißt, sie würden einen
weiteren Teil unserer Kirche zum Heiligen Franziskus bemalen."
Aus "Die Martinskapelle zu Assisi"
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