Alexia Weiss, 19. April 2014

 

Die Geschichten, die das Leben schreibt, sind meist die berührendsten – wahrscheinlich vor allem deshalb, weil man weiß, dass sie wirklich passiert sind. Ich bin kürzlich nach Kagran gezogen und als ich jüngst über das neue Buch des Physikers Peter Weinberger (www.pwein.at) , "Wohlgeordnete Einsamkeit" (herausgegeben vom Österreichischen Literaturforum) stieß, in dem er seine Kindheit in der Donaufelder Straße beschreibt, war der Neugierde die Tür weit geöffnet.

Eine jüdische Kindheit in der Nachkriegszeit in der Donaufelder Straße! Es scheint, es gibt nichts, was es nicht gibt. Natürlich mag das damit zu tun haben, dass Weinbergers Vater nicht jüdisch und seine Mutter nicht religiös war. Die Eltern hatten sich in der Kommunistischen Jugend kennengelernt. Anders als bei anderen Paaren stand der Vater während der NS-Zeit zu seiner jüdischen Frau und seinem jüdischen Sohn, der inzwischen zur Welt gekommen war. Mutter und Kind überlebten versteckt in einem Pfarrhof im Mühlviertel.

Die Erinnerungen Weinbergers, der bis 2008 Professor für Theoretische Festkörperphysik an der Technischen Universität Wien war und seitdem zwischen seinen zwei Heimaten Wien und New York pendelt, wo er an der New York University als Visiting Scholar tätig ist, reichen nicht bis in die Zeit vor 1945 zurück. Dennoch war seine Kindheit in der Donaufelder Straße nicht so wie die der anderen Kinder in der Umgebung. Da gab es etwa keine Fotos, die sonst zu dieser Zeit in allen Wohnzimmer standen und hängten. Dieses Fehlen von Bildern ist etwas ganz typisches in jüdische Familien, die den NS-Terror überlebt haben.

Wobei es bei den Weinbergers nicht so war, dass gar keine Fotos erhalten geblieben wären. Sie wurden aber nicht aufgehängt. Gemeinsam mit einem ganzen Packen Briefe verschiedener Familienmitglieder, in denen zwischen den Zeilen und auch ganz explizit die Vernichtungspolitik der Nazis deutlich wird, wurden sie eines Tages – Peter Weinberger war etwa zehn Jahre alt gewesen - weggesperrt. Die Mutter hatte massive Schuldgefühle, dass sie überlebt hatte, der Großteil ihrer Familie aber ermordet worden war. Das Lesen der Briefe hatte diese Gefühle immer wieder hochgetriggert.

Aus diesen Briefen veröffentlicht Weinberger viele Passagen in "Wohlgeordnete Einsamkeit" – auch im Faksimile. Da schrieb etwa die Mutter Weinbergers 1946 an einen Verwandten in den USA: "Einige Tage vor Kriegsschluss ließen die Nazibantiten alle Verbrecher aus den Strafanstalten aus, die Landstrasse fürchteten sie, so ging alles in die vereinzelten Dörfer. Dort hilten sie den Leuten die Pistolen vor und erpreßten. Wo wir waren ist fast jedes Haus heimgesucht worden. Die Leute die in Autos oder in Pferdefuhrwerke fuhren wurden umgebracht und in diesen Fuhrwerken wurden Plünderfahrten gemacht. Auch viele junge Frauen schleppten sie fort. Ich habe mich 2 Tage am Kirchturm versteckt, kannst du dir die Angst vorstellen, die ich ausstand, wenn die Glocken die Zeit angaben, war das wie ein Erdbeben, von unten hörte man dauernd um Hilfe schreien und ich dachte mir, immer lieber da oben sterben als von diesen Leuten vergewaltigt zu werden."

Oder man liest in einem Brief eines Bruders an die Mutter aus dem Jahr 1944, verfasst im KZ-Außenlager Golleschau: "Und Lolly was machst du immer? Liebe Lolly denke dir wie die Zeit vergeht. Jetzt werde ich schon 22 Jahre. Habt ihr irgend welche Nachrichten? Von Tante und Onkel braucht ihr nicht auf Post zu warten genauso wie von unseren Lieben. Kannst dir denken Lolly wie mir zu Mute ist Fredy Mama und alle, ich habe Glück gehabt. Ich hoffe bald wieder zurückzukommen."

Dieser Bruder überlebte tatsächlich – Lollas Eltern und drei Brüder wurden aber ermordet. Auch in der weiteren Familie schlugen die Nationalsozialisten grausam zu. Was "Wohlgeordnete Einsamkeit" so besonders macht: Peter Weinberger verliert sich hier nicht in Trauer und Selbstmitleid ist ihm fremd. Er schildert, was war. Und lässt in weiten Zügen die Menschen selbst zu Wort kommen – in ihren Briefen. Menschen, die zwar überlebt haben, aber dennoch gezeichnet sind. So gezeichnet, dass es ihnen auch schwer fiel, mit den Kindern über die NS-Zeit zu sprechen – auch eines der bekannten Muster.

Die Mutter musste ihren Sohn eines Tages zum Morzinplatz bringen, um über das zu sprechen, was der Familie in der NS-Zeit passiert war. Mit seinen eigenen Kindern pflegte er einen anderen Umgang mit dem Thema. "Allerdings mußten meine Kinder nicht zum Morzinplatz geführt werden, um ihnen ihre Abstammung zu erklären, um sie an ihr eigentliches Kulturerbe zu erinnern. Sie sind sich dessen bewußt: Sie sind damit aufgewachsen."