Der Wald und

 

viele Fragen

 

   
   
   

Eines Sonntags machte Guido mit Onkel Joschi einen Ausflug. Sie sollten einige Zeit wandern, dann ein Gasthaus aufsuchen, um so gestärkt wieder den Rückweg anzutreten.

Dabei ergab es sich, daß Guido Onkel Joschi mit unzähligen Fragen löcherte. So zum Beispiel: Warum verlieren viele Bäume vor dem Winter ihre Blätter; oder, wie wissen die Bäume, daß es Herbst geworden ist? Dabei fiel Guido auf, dass viele Dinge, die sie sahen, „der“ sind. Es heißt der Baum, der Strauch, der Wald. Also war das nächste zu fragen, warum es denn keine „die“ im Wald gibt. Worauf die Antwort kam, zwar heiße es der Baum, allerdings gibt es viele Bäume, die „die“ sind: Die Tanne, die Fichte, die Buche, die Eiche, die Esche. Guido gab sich mit der Antwort nicht zufrieden. Er sagte: „Wenn viele Tannen und Fichten beisammen stehen, also viele, viele „die“ Bäume, warum heißen alle zusammen der Wald?“

Onkel Joschi mußte sich geschlagen geben, er wußte keine Antwort. Das war zunächst nicht schrecklich, denn ihn rettete ein Eichhörnchen, das vorbeihuschte. „Schau, was für ein liebes Eichhörnchen“, rief er, um abzulenken. Guido durchschaute ihn sofort, und schon setzte ein Hagel neuer Fragen ein. Heißen die Eichhörnchen so, weil sie auf Eichen wohnen, und wenn ja, warum gibt es dann keine Buchhörnchen oder Tannhörnchen? Ob es stimme, daß ein Hörnchen ein kleines Horn ist und wo das Eichhörnchen dieses Hörnchen habe. Armer Onkel Joschi, diesmal rettete ihn weder ein abenteuerlich geformter Baum noch ein vorbeispringendes Tier. Mißgelaunt brummte er ein „weiß nicht“.

Da sich keine weiteren Anknüpfungspunkte ergaben, erreichten sie schweigend das Gasthaus, wo Onkel Joschi bei einem Glas Wein seine gute Laune wiederfand und Guido genießerisch die Würsteln in sich hineinstopfte. Lange Senfbahnen erstreckten sich über seinen Teller, erst das letzte Stück Semmel brachte wieder Ordnung in die Dinge.

Am Weg nach Hause erzählte Onkel Joschi, daß viele Dinge, die uns heute lächerlich vorkommen, weil ihr Name uns nichts mehr sagt, früher von großer Bedeutung waren. Die Meilensteine, meinte Onkel Joschi, gibt‘s eigentlich nur mehr in der Geschichte, weil es keine Meilen mehr gibt. Und wer weiß heute schon, wie schwer ein Mühlenstein um den Hals wiegt, wo es doch fast keine Mühlensteine mehr gibt. Aber, so sagte er, um, bei Steinen zu bleiben, es gibt auch Steine, deren Namen nichts von ihrem ursprünglichen Charakter oder Glanz eingebüßt haben. So der Turmalin, jener dunkelgrüne, geheimnisvolle Stein, oder der Amethyst, dessen strahlendes Violett sich in seinem Namen widerspiegelt.

Und so hatten die vielen Fragen im Wald und Onkel Joschis Verärgerung darüber doch etwas Gutes für Guido gebracht: Er entdeckte, daß Namen und Wörter abgenutzt sein konnten und in die Unkenntlichkeit des alltäglichen Gebrauches gerutscht sind; daß sehr viele Wörter mitunter mehr vermitteln als sie tatsächlich sagen. Unter Mühle stellte er sich schließlich etwas sehr gemütliches und romantisches vor, wohlwissend, daß eine industrielle Getreidemühle überhaupt nicht gemütlich ist.

 

©  Peter Weinberger 2015