Das Buch

   
   

Guido hatte ein Buch, das heißt, er hatte eigentlich viele Bücher, aber dieses eine war ein ganz besonderes. Man konnte in allen Sprachen darinnen lesen. Wünschte man sich englische Geschichten, etwa von einem alten Spukschloß, so brauchte man dies nur laut zu murmeln. Auch französische und spanische oder gar russische Geschichten konnte man sich von diesem Buch erwarten. Was einem einfiel, das Buch war nie verlegen um eine Antwort. Sagte man Südamerika, schon hatte man eine Auswahl schönster indianischer Märchen vor sich. Aber nicht nur Geschichten lieferte das Buch, nein, es bot auch entsprechende Abbildungen. Es konnte Bilder araukanischer Dörfer zeigen, genauso, wie es die landschaftliche Schönheit Georgiens belegen konnte.

Das Buch wußte von Menschen und ihren Erlebnissen zu berichten. Was dachte sich Columbus, als er einen Landstreif am Horizont sah? Selbst die geheimen Gedanken und Ideen alter Abenteurer konnte es offenlegen. Nicht daß diese Ideen immer so schmeichelhaft für deren Träger gewesen wären, aber bitte, man konnte sich diesbezüglich auf das Buch verlassen.

Es versuchte nie zu schwindeln, schon gar nicht, wenn es sich um berühmte Leute handelt. Mit diesem Buch konnte man sich in eine Ecke zurückziehen, ja man brauchte eigentlich gar nicht darinnen lesen: Alles was das Buch zum Gewünschten zu sagen hatte, floß einem förmlich zu. War man müde oder betrübt, so versuchte das Buch mit heiteren Geschichten und Schnurren Trübsal wegzublasen.

Ermahnend griff es ein, wenn die Gedanken dessen, der es in den Händen hielt, zu weit herumschweiften. Sein einziger Nachteil war, daß man nicht aufhören konnte, darin zu lesen. Und gelegentlich muß der Mensch auch schlafen oder essen.

 

©  Peter Weinberger 2015