Die Frau im Zentrum

   
   

Krug in der Form einer nackten Frau, neuelamitische Periode, Iran, 700-800 v.u.Z.

   
   
   
   
   

 
 
 
Veneres
     
Sitzende Frau,
Mesopotamien oder Syrien,
5600-5000 v.u.Z.
   

Es scheint ein dem klassischen Bildungsbild entsprechender Zwang zu sein, nackte Frauenskulpturen, vor allem solche frühzeitlicher Epochen, als Venus zu bezeichnen. Die sogenannte Venus vom Hohlen Berg, die vom Galgenberg, von Dolní Vĕstonice, und vor allem jene von Willendorf haben allerdings sehr wenig gemein mit der griechisch-römischen Göttin Aphrodite-Venus. Sie alle sind nämlich um rund 30.000 Jahre älter und gehören zu den ältesten Darstellungen einer Frau überhaupt.

Was ist nicht schon alles im Zusammenhang mit diesen alten Damen behauptet worden! Eine Deutung als Fruchtbarkeitssymbol dürfte bisher noch am häufigsten gebräuchlich gewesen sein. Die Venus von Willendorf mußte sogar einen Vergleich mit den Körperformen einer Schwangeren über sich ergehen lassen. Aber waren sie tatsächlich Fruchtbarkeitssymbole und die Venus von Willendorf schwanger?

Die Venus von Knidos, Praxiteles’ berühmtestes Werk, eine nackte junge Frau, die sich eine Hand vor ihr Geschlecht hält, wurde von den Auftraggebern, den Bewohnern der Stadt Kos, empört abgelehnt. Praxitiles hatte allerdings, offensichtlich in Vorahnung ihrer Prüderie, gleichzeitig eine dezent bekleidete Aphrodite angefertigt, die sie erleichtert in ihrem Tempel aufstellten. Über die bekleidete Version ist nichts weiter bekannt, die nackte Venus wurde dagegen in römischen Zeiten als das schönste Kunstwerk aller Zeiten gepriesen. Man reiste eigens nach Kos, bloß um diese Statue zu sehen.

Im Vergleich zur Venus von Knidos gebärdet sich die Venus von Milo geradezu züchtig, da sie die untere Hälfte ihres Körpers bedeckt hält, wobei das verhüllende Tuch so tief sitzt, daß ihr Geschlecht und ihre Beine gerade nicht sichtbar sind. Ganz ähnlich verhält sich die Aphrodite Kallipygos, die Venus mit dem „schönen Hintern“, die ihr bares Hinterteil durch entsprechende Kopfhaltung selbst bewundert und dem Betrachter stolz so raffniert zeigt, daß ihre Vorderseite bedeckt bleibt.

Glückliche Aphrodite von Knidos, die im Begriff steht, ein Bad zu nehmen, um der Sage gemäß ihre Jungfräulichkeit wiederherzustellen. Das Kleid, das sie eben abgelegt hat, hält sie noch in einer Hand. Genauso glücklich kann die Venus von Milo ihre jugendliche Koketterie zeitlos erhalten. 
Was wäre allerdings, wenn der Jungbrunnen zur Wiedererlangung der Jungfräulichkeit versiegte und plötzlich auch die Aphrodite von Knidos zu altern begänne? Ihre ehemals schlanken Hüften setzten mit der Zeit kleine Fettpolster an, das Säugen etlicher Kinder hätte schon längst ihre ehemals straffen Brüste erschlaffen lassen.

Noch ein paar Jahre später stellten sich langsam matronenhafte Züge ein, der Bauch beginnt sich vorzuwölben, und ihr Hinterteil hat einiges an Umfang zugenommen. Man sagt, sie sei eine Frau in den besten Jahren. Es ist nicht mehr die jugendliche Frische, die Verlangen erweckt. Es sind ihre ausladenden Formen, die vielfach noch immer Begierden auslösen. Es ist ihr bewußt, daß in einigen Jahren Krampfadern ihre Beine verunstalten und Falten ihr Gesicht überziehen werden. Als reife Frau müßte sie von ihrem jugendlich koketten Verhalten abrücken und ihre Reize anderwärtig in den Vordergrund rücken. Die Jugendhaftigkeit hätte dem Alltag zu weichen: Es würde lächerlich, als Vierzig- oder Fünfzigjährige so wie eine Siebenzehnjährige aussehen zu wollen.

Noch allerdings gibt es sie, die Nachfahrinnen der Venus von Milo oder der von Knidos, jedoch ist deren Anmut von der Sachlichkeit der Jetztzeit verdeckt. Sie sind längst nicht nur mehr weißer Hautfarbe oder ausschließlich jung. Und es gibt auch jene, die – über Jahrhunderte hinweg – noch immer die geballte Kraft einer Venus von Willendorf verkörpern. Es gibt sie alle noch, all diese Veneres.


  ©  Peter Weinberger 2015