Neun Frauen

   
   
   
   
   
   

Terra cotta lekythos, (Ölbehälter, Detail), Apulien, 400-375 v.u.Z.

   
   
   
   
   

 
 
Das Formular
 
     
Maske einer Frau,
117-138  n.u.Z.
   

Melpomene: Hallo, Mädels! Eben sind die neuesten Formulare geliefert worden. Mit der Auflage, sie umgehend und äußerst gewissenhaft auszufüllen und danach an die Zentrale weiterzuleiten. Schaut euch das nur an! Ich befürchte, wir werden in Zukunft für jedes Wirtshausspektakel eine solche Meldung erstellen müssen. Einen Riesenkarton mit Formularen haben sie uns zustellen lassen.

Thalia (wirft einen kurzen Blick auf ein Formular und lacht): Das wird unseren Chef garantiert magerln, weil angegeben werden muß, ob er bei seinen Auftritten als Alleinunterhalter zu zählen ist. Stellt euch das nur vor: Er betritt mit seiner goldenen Lyra in der Hand die Vorhalle von Delphi. Wird er selber singen? Oder beschäftigt er einen Stimmenimitator, der für ihn melodische Ergüsse von sich gibt?

Urania: Und wenn Sphärenmusik imitiert wird? Was machen wir dann? Immerhin bin ich für die korrekte Verwendung von Sphärenmusik verantwortlich.

Clio: Gar nichts, weil die ist meiner Meinung nach ohnehin zum Kotzen. Mich regt sie bestenfalls zum Pinkeln an.

Urania macht ein beleidigtes Gesicht.

Terpsichore: Habt ihr das gesehen? Da wird sogar gefragt, ob ein Tanz geplant ist, ein sich gegenseitig auf die Füße Treten. Na, das würde ich gern sehen, wenn unser oberster Chef mit seiner Alten, mit dieser Bißgurn, eine Runde dreht. Ich kann mir schon denken, daß es ihm lieber wäre, bei einer solchen Tanzgelegenheit einem willigen Nymphchen unter das Baströckchen zu greifen. Letztes Jahr, beim Neujahrsball, wollte er ausgerechnet mit mir, der für Tanz Zuständigen, eine Polka tanzen. Wißt ihr, was das Resultat davon war? Zwei Tage lang hab’ ich meine armen Füße in ein Becken mit warmem Kräuterwasser stecken müssen, weil meine Zehen sein Gewicht nicht ausgehalten haben. Und pausenlos hat er mir am Hintern herumgefummelt.

Erato: Geh! Das Aufreißen hat er bei einer jeden von uns noch versucht. „Na, Mädchen der glühenden Liebespoesie, hat er mir bei seinem letzten Anbahnungsversuch ins Ohr geflüstert, „wie wär’s mit uns? „Sehr gern, hab’ ich ihm schnippisch geantwortet, „jetzt gleich? Da am Boden? Vor allen anderen? Daraufhin hat er mich abrupt stehen lassen und mich eine blöde Gans geschimpft.

Euterpe: Also, wenn ihr glaubt, daß die anderen, seine Söhne, besser sind, dann habt ihr euch getäuscht. Bei dem für die Geschäftswelt Zuständigen kann man gar nicht so schnell schauen, hat er einem schon eine Hand zwischen die Beine gesteckt. Und erst der kleine Bucklige, der immer nach Knoblauch stinkt!

Erato: Seine Töchter sind auch keine Lercherln. Eine von ihnen hat mich tatsächlich unlängst herumgekriegt und nach Strich und Faden vernascht.

Clio: Ihr Mädel! Könnt ihr nicht mit eurem Geschwätz aufhören? Es geht nicht um den Alten, sondern um die Formulare, die wir von nun an auszufüllen haben. Habt ihr das verstanden? Also, was ist alles anzugeben? Gebt mir einmal so ein Formular, damit ich euch vorlese, was in Zukunft jeweils einzutragen ist. Als erstes ist der Veranstalter, seine Adresse und der Veranstaltungsort anzugeben.

Thalia kann sich vor Lachen kaum halten.

Clio: Thalia, jetzt halt’s endlich zusammen und laß mich weiterlesen. Also, ferner ist anzugeben, ob es sich um einen Ball, ein Zeltfest, einen Frühschoppen, Kirtag oder ein Kabarett handelt. Mit Publikumstanz oder nicht. Die Dauer der Veranstaltung, der Fassungsraum des Veranstaltungsortes, der Eintrittspreis sind ebenfalls anzugeben. Vor allem ist, wie schon die Thalia scherzhaft erwähnt hat, einzutragen, ob Alleinunterhalter auftreten.

Polyhymnia: Bitte, was ist ein Kirtag?

Calliope (in den Durchführungsbestimmungen blätternd): Hab’s schon, na, bitte, hier steht es: Ein Kirtag ist eine Veranstaltung eines ortsansässigen Kults, die dem Genuß ortsüblicher billiger Speisen und Getränke dient. Außerdem steht hier: Im Zweifelsfall ist die Beurteilung einer solchen Veranstaltung an die Völva-Abteilung abzutreten.

Polyhymnia: Und was bitte ist ein Frühschoppen?

Calliope: Wahrscheinlich dasselbe ohne Lokalkult!

Thalia (noch immer lachend): Also, das jährliche Treffen der Dionysos-Jünger in Delphi scheint so eine Art Kirtag zu sein. Gefressen werden reihenweise gebratene Schafe, der Wein fließt in Strömen, und die Weiber tanzen, wie bei einem Publikumstanz, wild herum. Ich nehme an, aus Pietätsgründen muß die bei diesem Fest stattfindende obligate Massenkopulation nicht extra angegeben werden.

Urania: Sei nicht so blöd, Thalia. Immer ziehst du alles ins Lächerliche. Ich schlage vor, wir schauen einmal, was in nächster Zeit ansteht, und versuchen, probeweise eines dieser Formulare auszufüllen. Wer hat die Liste der auf uns zukommenden Ereignisse?

Polyhymnia: Ich natürlich, weil ich nach Ansicht unseres Chefs die einzige wirklich Verläßliche bin.

Alle anderen: Bäh, blas dich nicht so auf!

Polyhymnia (nicht eingehend auf das Gemurre): Als erstes habe ich hier eine öffentliche, für jedermann zugängliche Orakelverkündigung in Delphi.

Melpomene: Na, bitte! In diesem Fall ist das Formular sehr einfach auszufüllen: Der Veranstalter ist die Dionysos-Gesellschaft mit Sitz in Delphi, der Veranstaltungsort der Platz vor dem Tempel, Fassungsraum: Unbegrenzt. Als Alleinunterhalter tritt Teiresias auf, Publikumstanz findet nicht statt, das unheilschwangere Geheule der Teilnehmer kann nicht als Gesang eingestuft werden, noch fällt die Veranstaltung in die Kategorie Frühschoppen. Eintrittskarten sind nicht vorgesehen, die Höhe der Spenden hängt von den individuellen Interpretationen der Orakelsprüche ab. Lediglich bei der Adresse des Alleinunterhalters, nämlich der vom Teiresias, wird’s schwierig: Am ehesten trifft nämlich ein „zu Fuß durch Griechenland wandernd zu. Mit einem Wort: Einmal da und einmal dort. Ob das reichen wird? Was glaubt ihr?

Polyhymnia: Als nächstes steht hier ein Auftritt der Erynnien wegen irgendeiner undurchsichtigen Familientragödie als Folgeerscheinung der Beendigung des Trojanischen Krieges.

Calliope: Also bitte, das fällt ganz offensichtlich in meine Kompetenz, weil sich Familientragödien hierzulande meistens über mehrere Generationen erstrecken. Der Veranstalter ist leicht anzugeben: Es ist die Firma Schicksale, en gros und en detail, die vor vielen Jahren von den Moiren gegründet worden ist. Die drei Inhaberinnen, die Klotho, Lachesis und die Atropos – drei alte, mieselsüchtige Weiber – streiten offensichtlich ununterbrochen miteinander, noch wesentlich mehr als wir, und bringen sich gegenseitig die Fäden, mit denen angeblich Schicksale verknüpft werden, durcheinander.

Es kann schon sein, daß die drei wieder einmal einen veritablen Streit ausfechten und dabei manche Fäden zum Verdruß der jeweils anderen in boshafter Absicht abgeschnitten haben. Ich habe gehört, daß nicht einmal der Alte die drei zur Räson bringen kann. Und wenn der Salat perfekt ist, schicken sie in gewohnter Manier die Erynnien aus. Die tragen vermutlich nicht zur Pflege der Volksmusik bei. Das Geheul der Erynnien soll noch unerträglicher sein als das bodenständiger Blasmusik. Ob ihnen die Moiren ein Honorar zukommen lassen werden, kann bezweifelt werden, denn die drei sind nämlich auch überaus geizig.

Der Veranstaltungsort ist auch noch nicht festgelegt, allerdings, wer will schon zuschauen – entschuldige Melpomene, wenn ich das jetzt so ungeniert sage – also, wer will schon zuschauen, wenn sich Familienangehörige gegenseitig auf die scheußlichste Art umbringen? Ich weiß schon, Melpomene, daß einiges in diesem Fall in deinen Bereich fällt und auch du gelegentlich mit Erynnien zu tun hast, aber mit der jedes Detail enthaltenden Breite, mit der dieses Familiendrama in der Nachwelt ausgewalzt werden wird, komme vermutlich nur ich zurecht.

Melpomene (erregt): So ein Blödsinn, aber von dir ist man ja nichts anderes gewöhnt. Ein Drama ist ein Drama, egal, wie langweilig es ist!

Clio (die in der Zwischenzeit weiter in den Durchführungsbestimmungen gelesen hat): Streitet euch nicht, Mädel! Da steht übrigens als Erklärung zu fast jeder Kategorie, zu jedem Vermerk, der angebracht werden muß, daß im Zweifelsfall entsprechende Anträge an die Völva abzutreten sind. Ich bin dafür, wir erklären uns für nicht zuständig und lassen die Formulare umgehend zu denen hinbringen. Sollen die sich mit dem Ganzen abmühen. Einverstanden, Mädel? 
Alle anderen: Großartig, endlich eine gescheite Idee!

Polyhymnia: Bitte, wer ist oder sind die Völva? 

Clio: Ich glaube, das ist so eine Art Konkurrenzfirma zu den Moiren, die von Barbaren gegründet worden ist. Genaueres kann ich dir aber nicht sagen.

Thalia (gelangweilt): Vulva ist ein unanständiges Wort!

Euterpe: Du hast schon wieder einmal nicht richtig zugehört: Völva, nicht Vulva!

Terpsichore (beginnt schwärmerisch zu tanzen, um das Thema zu wechseln): Erinnert ihr euch noch, wie dieser Schönling mir unlängst nachgestiegen ist? Bis spät in die Nacht haben wir miteinander getanzt.

Polyhymnia (bissig): Schau doch erst einmal in den Spiegel, bevor du wieder zu träumen beginnst! Du bist unfrisiert, die Schminke vom Vortag hast du über das ganze Gesicht verschmiert. Und die Füße könntest du dir auch einmal waschen! Schön ist anders!

Terpsichore wirft sich wütend auf Polyhymnia. Bis auf Clio, die auf den von ihr bestellten Botendienst wartet, stürzen sich alle anderen lustvoll ins Getümmel. Endlich gibt es wieder eine Gelegenheit, Ressentiments und aufgestauten Ärger loszuwerden. Vergessen sind die Moiren und die Erynnien, Alleinunterhalter und Publikumstänzer, lediglich das klatschende Geräusch von Ohrfeigen und das Gekreisch von an den Haaren Gerissenen erfüllt den zuvor noch friedfertig ruhigen, mit Blumen geschmückten Saal.


©  Peter Weinberger 2015