Vier Frauen

   
   

Sitzende Frau, Xochipala, Mexico, 1500-1000 v.u.Z.

   
   
   
   
   

 
 
 
 
Das Quartett Berenger
 
     
Sitzende Frau, Detail, Nigerien,
Ende 19. Jahrhundert
   

Wir sind wirklich vier Schwestern, allerdings lautet unser Familienname Berger und nicht Berenger, wie unser Quartett heißt. Berger ist uns ein bißchen zu hart, zu normal vorgekommen, um mit Musik in Verbindung gebracht zu werden. Also haben wir einen Namen gesucht, der sich durch leichte Veränderung aus Berger ergibt. Eigentlich sind wir nur durch Zufall auf Berenger gekommen. Im 13. Jahrhundert hat es nämlich einen Fürsten der Provence namens Raymond Berenger  mit vier Töchtern gegeben, die – alle vier – in die Geschichte eingegangen sind.

Sogar die Namen dieser vier Schwestern haben wir uns als Künstlernamen zugelegt. Ich, zum Beispiel, nenne mich Marguerite Berenger. Die historische Marguerite ist immerhin Königin von Frankreich gewesen. Ich spiele sehr oft die erste Geige im Quartett. Aber nicht, weil ich die Älteste bin, es hat sich halt so ergeben.

Die Zweitälteste von uns ist unsere Cellistin, Eleanor Berenger. Die tatsächliche Eleanor war nach ihrer Heirat nach England dort Königin und ist vermutlich die berühmteste der ehemaligen Berenger-Schwestern. Sie wird leider manches Mal mit der Eleanor von Aquitanien, ebenfalls Königin von England, verwechselt, die etwa ein Jahrhundert vor der Eleanor Berenger lebte und unter anderem die Mutter von Richard Löwenherz war.

Also, unsere Eleanor spielt, wie schon gesagt, Cello. Die zweite Geige im Quartett ist für gewöhnlich die Sanchia. Manches Mal wechseln wir uns aber auch ab, und ich bin dann die zweite Geigenstimme. Unser Nesthäkchen, die Beatrice, bedient die Viola. Die echten Schwestern Sanchia und Beatrice wurden übrigens auch Königinnen. Die eine des Römischen Reiches, die andere von Sizilien.

Uns hat allerdings nicht nur beeindruckt, daß alle vier Schwestern, historisch gesehen, bedeutende Persönlichkeiten waren, sondern auch, daß sie aus der Provence stammten, aus dem Land der Troubadoure, aus jenem Teil Europas, der zu deren Zeit das musikalische Zentrum des Kontinents bildete. Fasziniert hat uns außerdem das vornehme „sch“, das bei einer französischen Aussprache von Berenger – Beraunsché – zu verwenden ist. Und so sind aus Evelyn, Irmgard, Antonia und Gertrude Berger eben Marguerite, Eleanor, Sanchia und Beatrice Berenger geworden.

Unter diesen Namen treten wir seit etlichen Jahren auf. Eine Zeitlang wollten wir unser Quartett nach Alma Rosé benennen, aber das ist uns dann doch als zu verwegen vorgekommen, weil wir uns für nicht genügend gut hielten, ihrem Namen gerecht zu werden. An die vier Königinnen aus dem Mittelalter erinnert sich vermutlich kaum jemand, der unsere Programmzettel liest.

Bis auf die Eleanor, die bereits als Kind eigene Wege einschlug, haben wir alle von früh auf Geige spielen gelernt. Unsere beiden Elternteile waren nämlich Musiklehrer in Schulen, und daher war es ganz klar, daß wir Kinder ein Musikinstrument zu lernen haben. Und natürlich wollten wir alle zur Geige greifen, denn das war auch Papas Instrument. Lediglich Eleanor hatte sich von Anfang an für ein Violoncello entschieden.

 Zu Hause stritten wir uns ziemlich oft, denn immer war irgendeine einer anderen im Weg, nach außen hin jedoch versuchten wir, ein Herz und eine Seele zu sein. Auf der Musikschule hieß es immer: „Da kommen schon wieder die vier Bergerdrachen“, auch wenn nur eine von uns dort aufgetaucht ist.

Das mit dem Quartettspielen haben wir schon vor Jahren zu Hause versucht und dann auch auf der Hochschule studiert. Und weil wir eigentlich drei Geigerinnen sind, hat die Beatrice, damals noch die Trudi, den Entschluß gefaßt, sich der Viola zu widmen. Jetzt zittern wir halt von Engagement zu Engagement, ob es sich finanziell ausgeht. Gute Kritiken hat es in den letzten Jahren genügend gegeben, letztlich müssen sich diese aber auch finanziell niederschlagen.

Ein bißchen kracht es im Quartett jedes Mal, wenn eine von uns in Liebeskummer verfällt. Und ein wenig sind wir, die Beatrice und ich, dabei auf die Sanchia neidig, weil die hat immer einen ganzen Schwarm von interessanten Männern um sich. Zugegeben, sie ist auch die Fescheste von uns, aber das ist noch lange kein Grund, sich des öfteren wie eine Prinzessin aufzuführen. Ihr phantastisches Aussehen teilt sie übrigens mit ihrem historischen Gegenstück, mit der Sanchia Berenger aus der Provence, von der es heißt, sie sei beeindruckend schön gewesen.

Der große Ruhepol unter uns Schwestern ist die Eleanor, da sie als einzige von uns verheiratet ist und ein Kind hat, ein Mäderl, das von uns anderen, gegen den Willen ihrer Mutter, nach Strich und Faden verwöhnt wird. Es ist aber auch besonders süß und spielt uns Tanten gekonnt gegenseitig aus. Eleanors Mann, ein Techniker, hat meinem Geschmack nach zu wenig Beziehung zu Musik. Er sorgt aber im Grunde genommen immer für den nötigen Realitätssinn, wenn bei uns Mädeln wieder einmal Traum und Wirklichkeit weit auseinanderklaffen.

Bezüglich musikalischer Prioritäten kann ich allerdings nur über mich selber sprechen, meine Schwestern sind da oft genug anderer Ansicht. Würde es nach mir gehen, spielten wir fast ausschließlich Schubert. Meine Geige klingt dann fast so dunkel wie die Viola, die Schubert im hausinternen Quartett zu spielen pflegte; fast so, als käme sie direkt vom Alsergrund. Bei Schubert vergess’ ich alles rund um mich. Ich weiß: Beatrice zum Beispiel hat ganz andere Prioritäten. Klarerweise sind es zum Teil Stücke, in denen der Viola eine tragende Rolle zukommt. Davon unabhängig, ist sie eine Bartók-Fanatikerin. Pausenlos drängt sie uns, wieder einmal Quartette von ihm ins Programm aufzunehmen. Und die Eleanor verehrt Schostakowitsch. Seine Quartette gehen für sie über alles.

Übrigens, wenn ich zu Beginn eines Stückes meinen Bogen hebe und Blickkontakt mit den anderen suche, dann wird mir immer wieder klar, daß wir nicht nur ein bestens aufeinander eingespieltes Quartett sind, sondern auch in einem ganz besonderen Verhältnis zu einander stehen. Da kann es schon geschehen, daß ich mich vor Spielbeginn für einen ganz kurzen Moment daran erinnere, wie die Eleanor, die mir immer im schwarzen Abendkleid gegenübersitzt, als Kind mit ihrem Cello gekämpft hat.

Dann aber erklingt die Musik, und Eleanor ist nur mehr das Cello. Hoffentlich verweben wir die Stimmen unserer Instrumente genauso zu einem Ganzen, wie seinerzeit die echten Schwestern Berenger versucht haben, auseinanderstrebende, politische Interessen in Europa zu vereinen.

Wissen Sie, Musik, Bilder, bildende Kunst haben, wie ich glaube, sehr viel gemeinsam. Musik ist die flüchtigste aller Künste: Ein Ton, einmal gespielt, ist bereits Teil der Vergangenheit. Die kurze Zeitspanne zwischen dem Verklingen des letzten Tons und dem Aufkommen des ersten Applauses vermittelt so etwas wie einen transzendentalen Augenblick, in dem das eben noch Gehörte geräuschlos ausklingt. Diese Augenblicke, egal, ob ich selber spiele oder nur zuhöre, gehören für mich zu den schönsten Empfindungen, die Musik vermitteln kann. 

Eigentlich wollte ich nichts über Musik an sich sagen, weil es doch die Frage nach der Namensgebung unseres Quartetts zu beantworten galt. Wie ich schon betont habe, nennen wir uns nach vier Schwestern aus der Provence, nach vier Königinnen des 13. Jahrhunderts. Und wie Königinnen fühlen wir uns auch, wenn wir es wieder einmal geschafft haben, ein Stück besonders intensiv zu vermitteln. Hinübergebracht haben, wie wir das nennen.

Ich hoffe, Ihre Frage nach dem Ursprung des Namens unseres Quartetts damit beantwortet zu haben.


©  Peter Weinberger 2015