Drei Frauen im Halbkreis

   
   

Stehende Betende, Nippur, Mesopotamien, 2600-2500 v.u.Z.

   
   
   
   
   

 
 
Barrio-Grazien
 
     

Trauernde Frau, 1450-1475

   

Sie heißen nicht Aglaia, Euphrosyne und Thalia, wie die drei Grazien üblicherweise sich zu nennen pflegen, sondern Soledad, Flaca und Olivia. Mit Sicherheit haben sie nie von griechischen Göttinnen der Anmut gehört, weder in der Schule, noch sonst irgendwo. Sie haben vielleicht Freundinnen namens Graciella, ohne allerdings die Bedeutung und den Ursprung dieses Namens zu kennen. Die dunkle Hautfarbe ihrer schönen Gesichter und die großen, schwarzen Augen lassen sie jedoch unschwer als berechtigte Nachfahrinnen der drei Grazien erkennen. Sie müssen dazu nicht jene Pose einnehmen, die von den drei Grazien in den letzten 2000 Jahren erwartet wird, nämlich gemeinsam nackt herumzustehen, zwei in Vorderansicht, eine von hinten zu betrachten. Oder umgekehrt.

Soledad, Flaca und Olivia stellen die Anmut ihrer Körper in hautengen Hosen so zur Schau, daß jegliche Vorstellung von Entblößung sich erübrigt. Genauso straff hat selbstverständlich der Oberteil zu sitzen. Sie verletzen damit nicht die Sitten in dem Latino-Viertel, in dem sie leben, da wesentlich umfangreichere Frauen sich ebenfalls engstmöglicher Bekleidung bedienen. Vielleicht bedarf es tatsächlich einer solchen Zurschaustellung geballter Weiblichkeit, um die Ärmlichkeit und Schäbigkeit ihres Viertels in Vergessenheit geraten zu lassen; um wenigstens den 16-, 17- und 18-Jährigen für eine kurze Zeit jenes Gefühl von Schönheit zu geben, das sie stolz die Hüften schwingen und auf hohen Stöckelschuhen balancieren läßt.

Billige „Stretchjeans sind an jeder Ecke ihres Viertels auf der Straße ausgestellt. Aufgezogen über den Unterteil einer Kleiderpuppe, um die Dominanz des Hinterteils zu dokumentieren. Kein griechisches Schönheitsideal ist damit verbunden, sondern eines, das die Durchmischung Mittelamerikas mit Sklaven aus Afrika widerspiegelt. Es ist die überspitzte Ästhetik eines Fernando Botero, die zutrifft, und nicht die Anmut, die Botticelli mit seinen drei Grazien zu vermitteln versucht.

Soledad, Flaca und Olivia gehören auch nicht jener Oberschichte an, die so mancher europäischer Maler und Bildhauer aus seiner Sicht in den drei Grazien festgehalten hat. Ihre Lebensperspektiven beschränken sich in Folge ihrer sozialen Situation auf Gelegenheitsarbeiten oder bestenfalls auf Anstellungen als schicke Verkäuferinnen. Nach einiger Zeit werden Geburten und Alltagssorgen die wachsende Breite ihrer Körperformen bestimmen und ein vorzeitiges Ende ihrer jugendlichen Anmut bewirken.

Drei neue Grazien werden dann ihr Viertel, ihren „Barrio, beleben. Sie werden anders heißen, sind aber an ihren dunklen, schönen Gesichtern und großen, schwarzen Augen leicht zu erkennen.


  ©  Peter Weinberger 2015