Zwei Frauen im Halbkreis

   
   

Zwei Frauen, Levante, 2. Jahrtausend v.u.Z.

   
   
   
   
   
   
   
   
   

 
 
 
Das Ende einer langen Freundschaft
     
Zwei stehende Frauen,
15. Jahrhundert
   

Sie waren gleich alt. Geboren, als die Wirrnisse nach dem Ersten Weltkrieg sich bereits gelegt hatten, wuchsen sie als Nachbarskinder in jenem Villenviertel des 18. Wiener Gemeindebezirks zwischen Gersthof und Pötzleinsdorf auf, das sich auf dem Schafberg erstreckt. Gemeinsam besuchten sie zunächst den Kindergarten und danach die Volksschule. Vom ersten Tag an waren sie enge Freundinnen, woran sich nichts änderte, als sie später verschiedene Schulen besuchten. Da sie sehr wohlhabenden jüdischen Familien angehörten, verspürten sie weder kaum etwas von der Nachkriegsnot in manchen Teilen Wiens, noch hörten sie davon. Ganz im Gegenteil: Ein großer Teil der Sommerferien wurde stets im Salzkammergut verbracht, da sich ihre Eltern geeinigt hatten, ihre Ferien hintereinander zu nehmen, um die Kinder mehrere Wochen hindurch an Ort und Stelle lassen zu können. Nicht jedes Jahr wurde als Sommerfrische derselbe Ort gewählt, sehr oft jedoch war es ein Haus mit Garten oder eine große Wohnung in der Nähe des Altausseer Sees. Beide fühlten sich dort schon fast als Einheimische. Alles schien ihnen so vertraut zu sein: Der See, die alten Bauernhäuser, die Menschen, die am Sonntag in ihren Trachten vor der Kirche herumstolzierten.

1934, im Jahr des Bürgerkriegs, begannen beide, eben 15 Jahre alt geworden, auch Interesse an Burschen zu entwickeln. Erste Liebesängste und Liebeswünsche wurden eingehend beredet. Natürlich wurde die jeweils andere unverzüglich vom Erfolg oder Mißerfolg solcher Treffen informiert. Von den politischen Ereignissen unbelastet, genossen die beiden ihre erste Jugend in Wien: Die Schule floß nebenbei einher, ohne große Schwierigkeiten, aber auch ohne besondere Leistungen.

In den Dreißigerjahren wurden die antisemitischen Anpöbelungen auch in Gersthof und Pötzleinsdorf, vor allem aber die Krawalle deutschnationaler Studenten an der Universität Wien allmählich unangenehmer. Mit dem Einmarsch der deutschen Truppen in Wien nahm dann die Pötzleinsdorfer Idylle ein abruptes Ende. Beiden befreundeten Familien gelang es noch im Herbst jenes Jahres, in die USA zu emigrieren. 1938 waren die beiden Freundinnen gerade 19 Jahre alt geworden.

Das Leben in New York verlief schlagartig völlig anders als in Wien. Nach einiger Zeit allerdings ging die Notwendigkeit des Anpassens an eine ungewohnte Alltagskultur und des Zurechtkommens mit einer fremden Sprache vorüber. Obwohl sie nun mit ihren Familien in verschiedenen Teilen Manhattans wohnten, trafen sie sich noch immer mehrere Male in der Woche. Am Anfang in einem der Emigrantencáfes, in denen man wie in Wien Cremeschnitten, Linzertorten und Punschkrapferln bestellen konnte, später dann in Emigrantenkabaretts. Mit der Austrian Labour Youth, die in New York viele hauptsächlich aus Wien stammende junge Emigranten vereinte, kamen sie genauso wenig in Berührung wie seinerzeit noch in Wien mit sozialdemokratischen Jugendorganisationen.

Als eine von ihnen plötzlich ein Stipendium für ein Studium an einer kalifornischen Universität erhielt, schien es sich bloß um eine Trennung auf ein paar Jahre zu handeln. Anfangs besuchten sie sich gegenseitig, doch als die in Kalifornien sich in einen Kollegen verliebt hatte und bald darauf heiratete, reduzierten sich ihre Kontakte auf einen sehr regelmäßigen Briefwechsel. Es dauerte dann nicht lange, bis auch die in New York Zurückgebliebene geheiratet hatte, und sich in Los Angeles und in New York Kinder einstellten.

In der Zwischenzeit hatte sich das Land, in dem sie nunmehr lebten, ziemlich verändert. Die McCarthy-Zeit und die Ideologie um den Kalten Krieg hatten die ihnen vertrauten liberalen Einstellungen zu einem Minderheitenprogramm reduziert. Ihr Briefwechsel nahm eine dramatische Wendung, als der Mann der in Los Angeles Wohnenden plötzlich einer unheilbaren Krankheit zum Opfer fiel. Sie, die eigentlich nie in Los Angeles bleiben wollte, löste bald darauf ihren Haushalt dort auf und übersiedelte mit ihren Kindern zurück nach New York. Für sie hatte Los Angeles nie den Anspruch rechtfertigen können, eine richtige Stadt zu sein. In ihren Briefen sprach sie stets nur von einem über Quadratkilometer hinweg zerhüttelten Stück Land.

Zurück in New York, trafen sie sich nunmehr mit den Kindern an der Hand im Central Park zum Tratschen. Da beide einem Beruf nachgingen, mußte die Zeit für derartige Unternehmungen stets sorgfältig geplant werden. Gemeinsam mit ihren bereits halberwachsenen Kindern feierten sie zunächst ihren 50. und dann schon ohne Kinder ihren 60. Geburtstag. Mit jedem weiteren runden Geburtstag stellten sich neue Enkelkinder ein, später dann sogar Urenkel.

Als zu Ende der Siebzigerjahre der Eiserne Vorhang fiel, widerspiegelte sich das kaum in ihrem Alltagsleben. Vielleicht beeindruckte sie am ehesten noch der ein Jahrzehnt davor stattgefundene Sieben Tage-Krieg in Israel, da sie dessen Ende ein wenig als eine späte Selbstbestätigung empfunden hatten.

Ihre wöchentlichen Treffen fand längst nicht mehr in Cafés statt, die waren ja in der Zwischenzeit alle verschwunden, statt dessen besuchten sie sich einfach gegenseitig. Die eine wohnte recht vornehm auf der Central Park West, die andere im nördlichsten Teil von Manhattan. Zu Ehren dieser Besuche gab es immer entweder selbstgebackene Vanillekipferl oder mit Powidl gefüllte Buchteln. Es war dann fast wie damals in Wien, als sie sich zum Austausch wichtiger Neuigkeiten mit einem aus der Küche entwendeten Stück Mehlspeise in einem dunklen Eck verstecken konnten.

Der 90. Geburtstag war das letzte große Fest, das ihre zahlreich gewordenen Familien gemeinsam feierten, denn den 95. Geburtstag erlebte eine der beiden Freundinnen nicht mehr. Ihre Freundschaft hatte tatsächlich 90 Jahre lang bestanden. 90 lange Jahre, in denen sie vieles persönlich erlebten, zum Teil erleben mußten und vieles an sich vorüberziehen sahen. Wenn die noch immer allein lebende Zurückgebliebene gelegentlich von ihrer verstorbenen Freundin spricht, holt sie für gewöhnlich ein per Internet bestelltes Paket Erdäpfelknödelmasse hervor, das sie in Vorbereitung für den nächsten fälligen Besuch bereits besorgt hatte. Erdäpfelknödl hat sie am liebsten gehabt, erklärt sie dann ihren verblüfften Besuchern etwas wehmütig, Erdäpfelknödl mit Rotkraut, wie damals in Altaussee.

 


  ©  Peter Weinberger 2015