Zwei Frauen im Halbkreis

   
   

Weibliche Figuren, Terra Cotta, mykenisch, 1400-1300 v.u.Z.

   
   
   
   
   

 
 
 
Zwei Pragerinnen in Mexico
 
     
Säulenkapitell,
Ste-Trinité d’Anzy-le-Duc,
Département Saône-et-Loire,
11. Jahrhundert
   

Die folgende Geschichte kann sich vielleicht so ähnlich zugetragen haben.

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 Es muß 1942 gewesen sein, vielleicht im Frühjahr jenes Jahres, als an einem wunderbar klaren Tag in Mexiko City eine etwa vierzigjährige Frau aus der 5 de Mayo-Straße kommend den Zócalo, nämlich den Hauptplatz vor der Kathedrale, überquert. Zum selben Zeitpunkt betritt eine um einiges jüngere Frau von der Moneda her den Platz und schickt sich an, an der Kathedrale vorbeizugehen. Beiden sieht man an, daß es sich um Flüchtlinge aus Europa handeln muß: Sie scheinen nicht der spanisch-stämmigen Oberschichte anzugehören, denn dafür ist ihre Bekleidung zu ärmlich. Genau vor der Kathedrale gehen sie wortlos aneinander vorbei.

Nach etlichen Schritten bleibt die Jüngere stehen, dreht sich um und ruft der anderen fragend nach: „Alice? Alice Gerstel?“

Ungläubig, daß jemand hier in dieser Stadt, auf diesem Platz, ihren Namen kennt, bleibt die Angesprochene stehen und schaut die Ruferin etwas unsicher an. Aber dann breitet sich sofort ein freundliches Lächeln über ihr Gesicht aus.

„Na sowas! Die kleine Lenka! Was machst denn du hier? Seit wann bist du in Mexiko?“

„Noch nicht allzulang, ich hab’ eine etwas mühsame Anreise hinter mir. Und du? Aus Prag bist offensichtlich bereits sehr früh verschwunden. Ich hab’ nämlich deine Beiträge im Prager Tagblatt vermißt, die ich stets bewundert hab’.“

„Und ich hab’ noch deine ersten journalistischen Versuche in der Arbeiter-Illustrierte-Zeitung mit Interesse gelesen. Euer Chefredakteur, der Weiskopf, war ja eine stadtbekannte Persönlichkeit. Ihn hab’ ich oft im Café Slavia oder in den anderen Prager Kaffeehäusern gesehn, in denen das intellektuelle Leben seinerzeit stattgefunden hat. Egal, in welches man ging, garantiert saß dort ein Bekannter mit einer ausländischen Zeitung in der Hand. Aber was machst du hier? Wie geht es dir? Vor allem, wieso war die Anreise hierher mühsam? Hat sie länger gedauert, als du gedacht hast?“

„Das sind aber viele Fragen auf einmal! Was hältst du davon, daß wir uns einfach ein paar Minuten in den Dom zum Tratschen in eine der hinteren Bänke setzen?“

„Gute Idee, ich will auch nicht länger hier herumstehn. Es wird garantiert eine Premiere sein: Zwei religionslose Jüdinnen, die in Eintracht nebeneinander auf einer Bank in der ältesten Kirche Lateinamerikas sitzen.“  

-2-


„Das mit der Anreise hat so lang gedauert, weil es eine Reihe von unfreiwilligen Aufenthalten gegeben hat. Nach meiner Flucht aus Prag saß ich zunächst einmal ein halbes Jahr in Einzelhaft in einem Pariser Frauengefängnis. Dann hat man mich nach Südfrankreich in ein Lager abgeschoben. Fast zwei Jahre hab’ ich an diesem trostlosen Ort verbringen müssen, bevor es mir geglückt ist, nach Casablanca zu entkommen. Dort hat man mich in ein Lager für gestrandete Ausländerinnen am Rande der Sahara gesteckt. Es hat letzlich ein weiteres halbes Jahr gedauert, bis ich endlich die Reise nach Mexiko antreten konnte. Die hat mir übrigens der Egon Erwin Kisch und mein ehemaliger Chef in der Arbeiter-Illustrierte-Zeitung, der Weiskopf, ermöglicht.“

„Da hab’ ich’s, Gott sei Dank, sehr viel einfacher gehabt. Ich bin nämlich bereits drei Jahre, bevor die Deutschen in Prag einmarschiert sind, meinem Mann, dem Otto Rühle, nach Mexiko gefolgt. Ihn kennst du wahrscheinlich zumindest den Namen nach. Aber jetzt sag’ mir, wie ist es dir in Mexiko ergangen? Hast du Arbeit gefunden?“

„Ich hab’ im Vergleich zu vielen anderen Emigranten Glück gehabt. Ich war vom ersten Tag an bei der tschechoslowakischen Botschaft angestellt. Die von der Exilregierung in London natürlich. Und außerdem gibt es meinen bisherigen Mentor, den Kisch, in meiner Nachbarschaft. Vor allem hab’ ich über die Botschaft stets die neuersten Nachrichten aus Europa erhalten. Ich bin daher bis jetzt nie ganz von den Ereignissen dort abgeschnitten gewesen. Und du? Wie war es eigentlich bei dir?“

„Also, uns, dem Otto und mir, ist es am Anfang sehr gut gegangen. Wir konnten uns ein sehr schönes Haus, sogar mit einem Schwimmbecken im Garten, leisten. Aus dem mußten wir leider zwei Jahre später wieder ausziehen. Jetzt wohnen wir in Coyacan in einem kleinen Haus mit Garten. Übrigens ist das derselbe Ort, in dem auch Trotzki eine Bleibe gefunden hat, bevor ihn der Ramón Mercader ermordet hat. Das ist nun auch schon wieder zwei Jahre her. Der Otto und ich waren mit Trotzki befreundet, obwohl wir seine politischen Meinungen nie geteilt haben. Wir haben auch den Ramón recht gut gekannt. Wegen dieser freundschaftlichen Beziehung zu Trotzki meiden uns viele hier wie die Pest. Viele glauben, wir sind Trotzkisten. Deswegen haben wir leider sehr wenig Umgang mit anderen Emigranten aus Deutschland oder aus der Tschechoslowakei. Wir sind offensichtlich bei vielen Emigranten nicht sehr willkommen. Und uns behagen wiederum deren Ansichten nicht, was übrigens auch für den Inhalt des Exilblättchens Alemania Libre gilt.“

„Das ist schad’, denn für die Alemania Libre schreib’ ich gelegentlich, manches Mal sogar gemeinsam mit dem Kisch. Ich glaub’, er hat damals, als der Mord an Trotzki geschah, einen Artikel darüber in der Alemania verfaßt. Wir sollten uns jedoch nicht über ideologische Differenzen streiten! Ich freu’ mich jedenfalls, daß ich dich zufällig hier, genau vor dem Dom, auf dem Zócalo, getroffen hab’. Sag’ mir, wie geht es euch hier jetzt? Hast du zur Zeit eine Anstellung?“

„Nein! Am Anfang, als wir ins Land kamen, konnte ich noch für das Prager Tagblatt als Journalistin arbeiten. Dann war ich als Übersetzerin und Dolmetscherin beschäftigt. Jetzt leben wir hauptsächlich von dem Geld, das mir mein Bruder aus New York schickt. Ihm ist es gelungen, in die USA zu flüchten. Gemeinsam übrigens mit meiner Schwester, die gelegentlich hierher auf Besuch kommt. Unsere finanzielle Situation ist eher trist, weil auch der Otto über keinerlei Einkünfte mehr verfügt. Ich mach’ aus der Not eine Tugend: Ich versuch’, Bücher zu schreiben. Ich beschäftig’ mich, wie dir vielleicht von einigen meiner Artikel her noch bekannt ist, mit Sozialpsychologie. Ein Buch dazu ist sogar noch vor der Machtergreifung durch die Nazis in Deutschland erschienen. In Dresden, wo wir einige Zeit gewohnt haben. Ich hab’ übrigens unlängst ein Romanmanuskript hier abgeschlossen. Der Roman spielt zum Teil in der Redaktion und Druckerei einer Prager Zeitung. Vor 1939 natürlich. Die Hauptperson heißt Hanna und ist Journalistin – so wie wir beide.“

„Gib mir für einen Augenblick deine Hand! Mach die Augen zu und denk dir, wir sitzen, so wie hier, im Halbdunklen der Teyn-Kirche! Denk dir, wir stehen langsam auf und gehn auf den Platz vor der Kirche. Es ist ein dunkler, nebliger Novembertag. Vorbei am Kafka-Haus führt uns der Weg in Richtung Altneuschul. Jedes Haus auf der Pariska kommt uns vertraut vor, so, als hätten wir Prag nie verlassen. Plötzlich befinden wir uns auf der Karlsbrücke und schlendern hinüber in die Malá Strana. Am Kleinstädter Ring biegen wir dann ab, um über die Thunstiege zum Hradschin zu gelangen. Siehst du das alles auch vor dir? Fast jede Nacht führt mich ein Traum durch den Pulverturm auf den Altstädter Ring. Ich sehe alles genau vor mir. Erst irgendwo auf der Karlova verschwindet der Traum; warum, weiß ich nicht. Ich wach’ auf und begreif’ ungläubig erst langsam die fremde Umgebung rund um mich … . Glaubst du, werden wir Prag jemals wiedersehn?“

„Wenn ich an Prag denk’ – anders als in deinem Traum – dann seh’ ich leider nur Hakenkreuzfahnen vor mir, die von allen Gebäuden wehen. Schau, dort vorne wird schon über uns getuschelt. Ich glaube, wir sollten – noch bevor sie uns hinauswerfen – wieder gehen.“

-3-

„Lenka: Leider muß ich mich jetzt verabschieden. Ich war nämlich auf dem Weg zu einem wichtigen Treffen. Es würde mich sehr freuen, dich wiederzusehn, obwohl du, wenngleich auch nur für ein paar Minuten, in mir längst verdrängt geglaubtes Heimweh nach Prag hervorgerufen hast. Es muß ja nicht so zufällig sein so wie heut’. Kommt uns doch in Coyacan besuchen, du und dein mir bis jetzt unbekannt gebliebener Mann!“

„Wir werden es versuchen! Vielleicht an einem der kommenden Wochenende, vielleicht dann, wenn der Egon wieder einmal auf einer seiner Entdeckungsreise durch das Land ist. Ahoj, Alice!“


   ©  Peter Weinberger 2015