Zwei Frauen

   
   

Stehende Frau, Terracotta, Zypern, 1900-1600 v.u.Z.

   
   
   
   
   

 
 
 
Edelstein und Edelsteinchen
     
Trinkgefäß, Bronze, Hellenistisch,
Detail, 4.-3. Jahrhundert v.u.Z.
   

Ein merkwürdiges Paar waren sie schon, die beiden kleinen Mäderl, die die Lehrerin in der ersten Volksschulklasse mit der Bemerkung: Das ist meine Edelsteinreihe, an einen Tisch setzte, nur weil sie Rubina und Saphira hießen.

Rubina, für ihr Alter sehr groß und kräftig, schickte sofort ein Zeichen der Freundschaft an ihre Nachbarin: „Hallo, Edelsteinchen, denn Saphira war eindeutig die Allerkleinste in der Klasse, ein sehr zartes, graziles Mäderl mit kurzem, stark gelockten Haaren.

„Nur du darfst Edelsteinchen zu mir sagen, weil ich nämlich Saphira heiße, denn mein Vater sagt auch immer Edelsteinchen zu mir. Ich werd’ dich dafür Edelstein nennen, denn schließlich bist du viel größer als ich, und außerdem hast du lange, blonde Haare, genau solche, wie ich sie mir immer schon gewünscht hab’.

Und dabei blieb es. Edelstein und Edelsteinchen freundeten sich sehr an. Viel mehr noch: Rubina wachte über ihre kleine Freundin mit Argusaugen. Wie ein Leibwächter stand sie immer hinter oder neben ihr, damit die anderen in der Klasse sich nicht ihr Mütchen an der Kleinen kühlen konnten. Die versuchten es zum Teil erst gar nicht, denn sich mit Rubina anzulegen hieß, blaue Flecken und gelegentlich sogar kräftige Watschen zu kassieren.

Die beiden Freundinnen waren schlicht unzertrennbar. Sehr bald nach Schulbeginn löcherten sie ihre Eltern mit der Bitte, das Wochenende abwechselnd bei der jeweils anderen verbringen zu dürfen. Nach anfangs zögernder Gewährung schlief Rubina eben die Nacht vom Samstag auf den Sonntag ein Mal in Saphiras Bett, das andere Mal Saphira bei Rubina. Die Eltern der beiden hatten sich in der Zwischenzeit ebenfalls angefreundet, eine Freundschaft, die andauerte, selbst als die beiden Töchter bereits erwachsen waren. Im Prinzip gab es nur die Regel, daß ab einem bestimmten Zeitpunkt das Licht abzudrehen war, aber unter der Decke versteckt, tuschelten sie miteinander noch für eine geraume Weile, solange jedenfalls, bis eine von ihnen endlich einschlief.

Die Attraktion in Saphiras Zimmer war eindeutig deren umfangreiche Kollektion von Stoff- und Plüschtieren, denen sie die abenteuerlichsten Namen gaben: Der Plüschesel hieß zum Beispiel Kladderbusch, der Teddybär Herr Irtzinger. Bei Rubina gab es dagegen ein richtiges Kasperltheater mit einem Vorhang und auswechselbaren Kulissen. Selbstverständlich hatte der Kasperl immer die Hauptrolle zu übernehmen, aber auch die anderen Puppen, der Petzi, die Großmutter und vor allem das Krokodil Dagobert standen stets zur Verfügung. Manches Mal durften Rubinas jüngere Brüder zuschauen, aber wirklich nur manches Mal, denn meistens ließen sie, ohne lästiges Publikum gemeinsam hinter der Kasperlbude stehend, den Kasperl immer neue Abenteuer erleben. Unabhängig vom Ort war jedenfalls das Kuscheln unter der Decke, an dem Herr Irtzinger immer teilnehmen durfte, für beide am allerschönsten.

„Jetzt schlaf endlich, Edelsteinchen, versuchte Rubina in der Regel die quirlige Saphira einzubremsen. „Aber erst, wenn Frau Edelstein ebenfalls zu schlafen geruht, lautete dann die gewohnte Antwort. Gelegentlich lachten sie so laut, daß die Eltern hereinkamen und unter Androhung des Einstellens der gegenseitigen Wochenendbesuche das sofortige Einschlafen einforderten.

Rubina und Saphira blieben beste Freundinnen durch die gesamte Mittelschulzeit, natürlich mit Rubina weiterhin als Beschützerin ihrer Freundin, der ständig Kleinsten in der Klasse. Mit der Zeit hatten die Puppen und Stofftiere selbstverständlich ihre Bedeutung verloren, das Flüstern unter der Decke gehörte allerdings nach wie vor zum Vergnügen des Übernachtens bei der jeweils anderen.

Mit großem Interesse wurde das gegenseitige Erwachsenwerden beobachtet: Saphira bewunderte für eine Zeitlang die langsam wachsenden Brüste ihrer Freundin, solange jedenfalls, bis auch sie beginnende Schwellungen herzeigen konnte. Da sie nie Scheu vor einander gehabt hatten, erschien es ihnen ganz natürlich, die körperlichen Veränderungen bei der jeweils anderen zu verfolgen. Entsprechend ihrer Körpergröße war bei Rubina halt alles wesentlich kräftiger entwickelt, während Saphiras äußere Formen sich ihrer Zierlichkeit anzupassen schienen.

Erst nach der Matura, als sie beide die Universität besuchten, begannen sich ihre Wege langsam zu trennen, vor allem auch, weil sie sehr verschiedene Studien belegt hatten, nämlich Rubina Jus und Saphira Medizin. Man traf sich immer noch manches Mal am Wochenende, nunmehr gemeinsam mit dem jeweiligen Freund, die Innigkeit ihrer Beziehung zu einander jedoch hatte notgedrungen anderen Prioritäten zu weichen. Saphiras Wochenenddienste als Spitalsärztin bedingten schließlich eine weitere Entfremdung, da sehr oft gemeinsame Freizeit sich als schwer organisierbar erwies. Rubina war die Erste, die heiratete und sich sehr bald von ihrem Beruf und ihren Kindern vollkommen in Beschlag genommen sah. Saphira folgte ihr ziemlich genau ein Jahr später. Sie besuchten sich gegenseitig nur mehr gelegentlich mit Mann und Kindern, die ihrerseits sich offensichtlich bestens miteinander angefreundet hatten, allerdings nicht mit jener Intensität, mit der Rubina und Saphira ihre Kindheit und erste Jugend erlebt hatten. Nach etlichen Jahren bezeugten nur noch Weihnachtskarten von der ehemals innigen Freundschaft.

Viele Jahre später stand Saphira im Foyer eines Theaters, als sie plötzlich ihre Jugendfreundin unter den auf den Einlaß Wartenden entdeckte. „Das ist doch die Rubina! Mit grauen Haaren!, erschrak sie, während sie sich den Weg zu ihr durchkämpfte.

Die spontane Umarmung schien Jahrzehnte des Nichtsehens in Sekundenschnelle wegzublasen. „Edelsteinchen, mein Edelsteinchen, freute sich Rubina, über das ganze Gesicht strahlend. „Was für ein Zufall, dich hier zu treffen. Wir müssen unbedingt nach der Vorstellung miteinander in ein Kaffeehaus gehen, um endlich wieder einmal tratschen zu können … . Wenn du willst, dann können wir auch sofort gehen. Es steht ohnehin nur eine Abonnementvorstellung auf dem Programm, die mich nicht besonders interessiert. Was meinst du? „Na, dann gehen wir lieber gleich", antwortete Saphira, ohne lange zu zögern: „Zufälle, wie gerade jetzt, muß man unbedingt ausnützen.

Sie saßen bis Mitternacht in einem Café, denn es gab soviel zu erzählen. Und weil die Zeit dafür nicht ausreichte, trafen sie sich bereits am nächsten Tag wieder und schließlich jeden zweiten Tag am Nachmittag, um gemeinsam bei einem Tee verlorene Jahrzehnte nachzuholen.

Es stellte sich heraus, daß beide derzeit allein lebten, Saphira noch immer im Stadtzentrum, in der riesigen Wohnung ihrer Eltern. Rubina berichtete, daß ihr Mann sich nach 30 Jahren Ehe scheiden hatte lassen, um seinem Johannistrieb folgend mit einer wesentlich jüngeren Frau zusammenleben zu können. Ihre beiden Kinder hätten bereits selbst Familien, sie würden bloß gelegentlich vorbeischauen, um zu kontrollieren, ob alles in Ordnung sei.

Beruflich sei es ihr allerdings sehr gut ergangen, fügte sie hinzu, denn sie habe in den letzten Jahren sehr erfolgreich eine gutgehende Rechtsanwaltskanzlei betrieben, in der sie nach wie vor kleinere Aufträge übernehme und daher jetzt in der Lage sei, das Leben einer wohlsituierten Fastpensionistin zu führen.

Saphira hatte im Grund genommen sehr ähnliches über sich zu erzählen. Ihr Mann, vertraute sie Rubina an, sei schon vor einigen Jahren an den Folgen eines Herzanfalls verstorben. Als Primaria einer großen gynäkologischen Abteilung sei sie erst unlängst pensioniert worden und daher jetzt ebenfalls mit keinerlei Verpflichtungen belastet. Die vielen Details, insbesondere die Kinder und Enkelkinder betreffend, die es mitzuteilen galt, schienen fast kein Ende zu nehmen.

An einem der bereits kanonisch gewordenen Nachmittage im Kaffeehaus meinte Saphira plötzlich: „Sag einmal, Edelstein, willst du nicht, statt alleine zu Hause herumzusitzen, kommenden Samstag zu mir kommen? Ich koche etwas Besonderes für uns, wir machen eine Flasche Wein auf und können ungestört beliebig lange miteinander reden.

An dem bewußten Samstag verflog die Zeit im Nu, aus einer Flasche Wein wurden schließlich fast zwei. „Edelstein, so lass’ ich dich nicht in dein Auto einsteigen, ermahnte Saphira ihre Freundin, als sich diese verabschieden wollte, „das wäre unverantwortlich von mir. Und von dir erst recht! Du kannst im Zimmer meines Sohnes übernachten, dort ist stets alles für etwaige Gäste vorbereitet. Keine Sorge, wir werden schon ein passendes Nachthemd für dich unter den Sachen meiner Tochter finden, die sich seit Jahren beharrlich weigert, endlich ihren Kasten auszuräumen.

„Einverstanden, Edelsteinchen, es ist mir auch nicht ganz geheuer, nach fast einer ganzen Flasche Wein in mein Auto zu steigen. Allerdings hab’ ich eine Bedingung, daß du nämlich nächstes Wochenende zu mir kommst. Meine Wohnung ist fast so groß wie deine. Und leerstehende ehemalige Kinderzimmer gibt’s auch bei mir.

Die folgenden Wochenenden besuchten sie sich gegenseitig, immer versorgt durch ein sorgsam vorbereitetes Abendessen, gefolgt von einem gemütlichen, sonntäglichen Frühstück. „Ich bin so froh, daß wir uns zufällig im Theater getroffen haben“, gestand Rubina, wohlwissend, daß ihre Freundin ohnehin der selben Ansicht war. „Jetzt können wir, ohne krampfhaft irgendwelche Freunde zum Mitgehen einzuladen – wie seinerzeit – vieles gemeinsam machen: In ein Theater oder ins Kino gehen, oder aber auch Konzerte und Ausstellungen besuchen.

Monate später, während einer Sommernacht, die Rubina in Saphiras Gästezimmer verbrachte, tobte weit nach Mitternacht ein Unwetter über der Stadt. Saphira wachte auf, weil Rubina plötzlich neben ihrem Bett stand. „Darf ich zu dir kriechen, ich fürchte mich nämlich so vor den Blitzen, stammelte Rubina, hob die Bettdecke auf und schmiegte sich sofort wie ein Kind an Saphira. „Na, so was, mein großer Edelstein ist ein Angsthase, belächelte diese ihre Freundin, die offensichtlich wieder eingeschlafen war. „Jetzt liegen wir wieder unter einer Bettdecke, genauso wie vor Jahrzehnten, dachtete sie sich und streichelte ganz sanft über Rubinas grau gewordene Haare. „Wir sind beide alt geworden. Das Leben mit Familie, mit Kindern, haben wir bereits hinter uns gebracht. Es ist fast so, als ob wir, wie damals in der ersten Klasse, wieder von vorne anfangen müssen.

Als sie in der Früh aufwachte, hatte sie das Gefühl, daß Rubina sie bereits eine Weile still angeschaut hatte. „Sag einmal, Edelsteinchen, wie kommt es, daß deine Haare noch immer natürlich schwarz sind, während ich bereits grau wie eine Greisin bin? Bist du jünger geworden in den letzten Jahren?

„Beneidest du mich jetzt um meine Haare, die keinerlei Anzeichen an den Tag legen, zu ergrauen? Wohlwissend, daß ich dich als Kind jahrelang um deine langen, blonden Haare beneidet hab’? Das ist halt jetzt ein kleiner Ausgleich für meinen seinerzeitigen sehnlichsten Wunsch.

Das Gewitter hatte offensichtlich bewirkt, daß zwischen den beiden sich wie selbstverständlich die alte Vertrautheit eingestellt hatte. Mehr noch, sie befanden es als unvernünftig, als Alleinstehende zwei große Wohnungen zu betreiben. Im Herbst desselben Jahres vermietete schließlich Rubina ihre Wohnung und zog in Saphiras Gästezimmer ein. Das ehemalige, nun leerstehende Zimmer von Saphiras Tochter nahm sie ebenfalls in Beschlag. „Wenn man älter wird, erklärte sie, „dann hat man einfach mehr lebenswichtige Dinge bzw. bildet sich ein, diese unbedingt zu benötigen. Du hast ohnehin ein riesiges Arbeitszimmer zur Verfügung, das, wenn ich mich richtig erinnere, bereits dein Vater als solches benutzt hat. Ein bißchen für die Kanzlei arbeiten möcht’ ich schon noch, nicht all zu viel, aber dazu brauch’ ich natürlich einen entsprechenden Arbeitsplatz. Ich bin sicher, wir werden uns nicht gegenseitig auf die Nerven gehen. Wir können uns ja von Zeit zu Zeit, sollte es notwendig sein, in unsere Zimmer zurückziehen. Langweilig wird uns sicherlich nicht werden.

Sowohl Rubinas als auch Saphiras Kinder waren von der neuen Situation restlos begeistert, denn jetzt können die beiden Alten, wie sie die beiden untereinander nannten, gegenseitig auf sich aufpassen und Sorgen wegen des Alleinlebens würden damit gegenstandlos werden.

Nach einiger Zeit des Zusammenlebens in Saphiras Wohnung beschlossen sie sogar, das riesige Ehebett im bis dahin unbenützt gebliebenen Schlafzimmer gemeinsam zu verwenden, allerdings ausgerüstet mit separaten Decken, um keinerlei Störungen durch wiederholtes Umdrehen in eine Richtung aufkommen zu lassen. Seitdem lebten sie in vollster Eintracht zusammen, wie zwei der Gestalt nach sehr verschiedene Schwestern. Es war einfach schön, vor dem Einschlafen „Schlaf gut, Edelsteinchen!“ zu sagen und ein „du auch, Edelstein! zu hören.

„Erinnerst du dich noch an meinen Teddybären, an den Herrn Irtzinger?, erkundigte sich eines Tages Saphira vorsichtig bei Rubina. „Ich hab’ ihn aufgehoben. Darf er wie seinerzeit zwischen uns schlafen?


©  Peter Weinberger 2015