Zwölf Frauen

   
   

Stehende Frau, Mexico, 1000-500 v.u.Z.

   
   
   
   
   

 
 
Die zwölf Brunnen von Elim
 
 
     
Frauenmaske, Mexico,
1000-500 v.u.Z.
   

 

Es waren nicht siebzig, sondern zweiundsiebzig, nämlich sechs mal zwölf Palmen, und bei den zwölf Wasserstellen handelte es sich um zwölf tiefe Ziehbrunnen. Zwölf: Die Zahl der im Zodiak vertretenen Sternenbilder, die in stets klaren Wüstennächten fast bedrohlich nahe gesehen werden können.

Je ein Brunnen und genau zwölf Palmen wurden von jeweils einer schwarzverhüllter Frau bewacht. In Elim, zwischen zwei Wüsten gelegen, zwischen der Wüste von Etham und der von Sin, ermöglichten die paar schattenspendenden Palmen und die Ziehbrunnen Überleben in einem der unwirtlichsten Teile jenes Landes, das ganz im Süden von einem hohen Berg begrenzt ist. Die Wahrung dieses ungeahnten Schatzes zwischen zwei Wüsten verpflichtete zu Sorgfalt und zur bedächtigen Entnahme des ohnehin nur kärglich vorhandenen Wassers.

Die zwölf Frauen von Elim nannte man sie damals. An sie hatte man sich zu wenden, wenn es darum ging, Wasser aus den Brunnen zu schöpfen. Oft waren diese Frauen monatelang allein, lediglich damit beschäftigt, ihre Palmen ausreichend zu gießen. Nur gelegentlich verirrte sich ein kleiner Troß von Leuten in diese winzige Insel zwischen einem gefährlichen Meer und abschreckend wirkenden Bergen. Seit Menschengedenken hatte sich der Brauch entwickelt, die Wasserentnahme mit Rätseln zu

verbinden. Jeder einzelne oder eben einer stellvertretend für einen Stamm hatte ein solches Rätsel zu lösen, bevor der Ziehbalken eines Brunnens betätigt werden durfte. Sich ohne dem Lösen von Rätseln des Wassers von Elim zu bedienen, das gebot das Gesetz der Wüste. Solches war auch nicht ratsam, denn den zwölf Frauen wurden Kräfte nachgesagt, die sie angeblich den Geheimnissen ihrer Brunnen entnommen hatten. Das Gesetz der Wüste, das hatte jeder einzuhalten, der überleben wollte, der eine weitere Wüste, die Wüste von Sin, weiter im Süden von Elim gelegen, zu durchqueren hatte.

Die Überraschung in Elim war beachtlich, als ein riesiger Zug von Menschen, verschwitzt, verdreckt und dem Verdursten nahe, sich den Palmen näherte. Flüchtlinge, wie es schien, denn der größte Teil ihrer Habseligkeiten bestand aus armseligen Zeug.

Wie Wilde hatten sie sich sofort um die Brunnen gedrängt und stießen die Jungen, die noch Kräftigen vor, um die Ziehbalken zu betätigen. Drohrufe gegen die vor den Brunnen stehenden Frauen wurden laut: „Erschlagt die alten Weiber, die im Weg stehen! Worauf warten wir noch? Es reicht, daß wir uns bereits seit so vielen Tagen auf der Flucht befinden!“

Als der Tumult immer lauter und bedrohlicher wurde, hob plötzlich eine der Brunnenwächterinnen eine Hand. Es schien, als würde ihre Gestalt wachsen und wachsen. Das Geschrei vor ihrem Brunnen verstummte. Die, die zuvor am lautesten gebrüllt hatten, wichen als erste angstvoll zurück.

 „Ihr könnt und dürft soviel Wasser aus meinem Brunnen entnehmen, wie ihr benötigt, allerdings zuvor hat einer von euch ein Rätsel zu lösen. So will es das Gesetz der Wüste. Ich will es euch leichtmachen, ihr braucht nur mich anzuschauen“, fügte sie hinzu, während sie ihr Kopftuch abnahm. „Das Rätsel lautet: Es baumelt glitzernd und ist dennoch keine Frucht.“

Verblüfft starrten sie die um ihren Brunnen Stehenden an: Dichtes, schwarzes Haar umsäumte ein zeitlos jung wirkendes Gesicht. Ihr Goldschmuck glänzte in der Sonne.

„Also, dreimal dürft ihr raten!“

„Ich weiß schon“, rief da plötzlich einer aus der Menge, „es ist ein Stück Glas an einem Faden.“

„Das war nicht schlecht geraten, aber leider nicht die richtige Antwort. Schaut mich noch einmal an“, antwortete sie lachend und schüttelte ihren Kopf.

Jetzt war es jedem in der Menge klar: Natürlich, das baumelnde Glitzerding, das war ein Ohrring. Ihre Ohrenringe!

„Ohrenringe“, schrien sofort alle durcheinander, fast um zu zeigen, daß sie es vor allen anderen erraten hatten. Daraufhin trat sie an den Brunnen und betätigte fast mühelos den schweren, langen Ziehbalken. Ein dünnes Bächlein Wasser ergoß sich in ein vorgelagertes Becken, auf das sich alle, sich vielfach mit den Ellbogen Platz schaffend, stürzten.

Vor den anderen Brunnen verlief der Gang der Dinge sehr ähnlich. Mitunter ergaben sich beim Beantworten der Rätsel witzige Wortgefechte, die sehr zur allgemeinen Erheiterung und Entspannung beitrugen.

Bei einem Brunnen lautete das Rätsel, das zunächst Kopfschütteln und allgemeine Ratlosigkeit auslöste: „Du brauchst uns! Sind wir zu klein, so tun wir dir weh, sind wir zu groß, so tun wir dir erst recht weh.“ Um zu helfen, trat die Brunnenwärterin dicht an einen der alten Männer heran, der vor Schreck sofort zurückzuweichen begann.

„Du mußt nur auf deine Füße schauen! Was siehst du denn da, außer vielleicht häßliche Zehen?“

„Meine Füße?“ , stotterte der direkt Angesprochene, „meine Füße? Was soll ich denn schon an meinen Füßen erkennen? Meine Zehen natürlich und meine alten Sandalen.“

„Na also, dann hast du es ja schon erraten! Sandalen brauchst du! Sind sie zu eng, tun sie dir weh, von zu großen Sandalen bekommst du Blasen.“ Während alle lachten, begann der Ziehbalken zu knarren und das Wasser zu fließen.

Wahre Lachsalven löste das Rätsel „Ich falle hinten hinaus und brenne trotzdem, wenn du mich brauchst“ aus, denn die Antwort lautete: „Kamelmist“, mit dem in der Tat in der Wüste das Kochen betrieben wird.

Nachdem sie alle ausgiebig getrunken hatten – manchen von ihnen hatten sich sogar ihre Kopftücher befeuchtet – lagerten sie sich zufrieden unter den Bäumen. Es waren so viele, daß alle Plätze unter den Palmen belegt waren.

Jetzt erst fing ringsum ein Schnattern, ein wildes Durcheinanderreden an; mitgeführte Nahrungsmittel wurden ausgepackt. Und man begann, die gestellten Rätsel sowie die damit verbundene anfängliche Ratlosigkeit zu bereden.

„Recht geschieht dem Jezekiel“, meinte einer etwas boshaft, denn als der eine Antwort auf das Rätsel geben sollte: ʻIch trage fast alles, was du mir auf den Rücken legst. Wenn ich jedoch nicht will, dann helfen weder Schläge noch freundliches Zuredenʼ, hat er tatsächlich geglotzt wie ein Esel, was eigentlich schon die Lösung war.“

„Unser Rätsel war eigentlich auch zum Lachen“, steuerte ein anderer bei. „‚Die vier Brüder, die, stets zwei gemeinsam, durch die Wüste schreiten, können natürlich nur die Beine eines Kamels sein.“  

„Also, unser Rätsel“, hieß es aus einer anderen Ecke, „erwies sich zunächst als gar nicht so einfach zu lösen. Uns sind nämlich zu ʻOhne uns wären wir sehr bald sehr wenigeʼ unsere Frauen überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Erst als diese auf sich zeigten und sich in den Hüften wiegten, war auch uns die Lösung klar. Und natürlich stimmt es: Ohne Frauen wären wir in der Tat sehr bald sehr wenige.“ – „Wir haben unseres sofort erraten“ , mischte sich ein vorlauter junger Mann ein, „denn das Ding in ʻManches Mal bin ich mehr wert als alle deine Schätze. Nur wenn du sehr viel von mir hast, glaubst du, ich sei wertlosʼ, war ja direkt vor uns. Wasser ist, wie wir alle zur Genüge wissen, manches Mal viel mehr wert als alles, was wir miteinander gemeinsam besitzen. Das haben die letzten Tage sehr deutlich gezeigt.“

„Zumindest ein Rätsel“, meinte ein alter Mann, der sich mit dem Rücken an den Stamm einer Palme gelehnt hatte, „hat mich sehr nachdenklich gestimmt. Der Mond war nämlich gemeint in ʻIch komme und ich gehe. Ich selber bin zeitlos, dir allerdings gebe ich die Zeit anʼ. Eine Welt ohne Mond? Wie würden wir ohne ihn die Tage zählen? Er gibt uns durch sein Verschwinden an, wann Zeitspannen zu Ende gehen. Und er kommt immer wieder von neuem. Der Mond ist zeitlos, und dennoch gibt er uns die Zeit an. Dieses Rätsel ist eigentlich kein Rätsel, sondern eine tiefe Weisheit, die ich mir merken und an meine Kinder weitergeben will.“

Langsam senkte sich die Nacht über Elim. Erste Sterne begannen aufzuleuchten, und fast wie eine Erinnerung an ihn, an das Rätsel, das ihn zum Inhalt hatte, tauchte der Mond Menschen und Palmen in sanftes, kaltweißes Licht.


©  Peter Weinberger 2015