Zehn Frauen

   
   

Sitzende Frau, Südosteuropa, 5000-3500 v.u.Z.

   
   
   
   
   

 
 
 
In einer New Yorker U-Bahn
 
 
     

Weiblicher Torso, Südosteuropa,

5000-3500 v.u.Z.

   

Doch, doch! Natürlich kann ich mich an jene zehn Frauen erinnern, die mir in den letzten paar Tagen in der New Yorker U-Bahn-Linie A ganz besonders aufgefallen sind. Wieso ich mir da so sicher bin? Das ist ganz einfach: Von dort, wo ich einsteige, bis dorthin, wo ich aussteige, sind es genau zehn Stationen. Da die Fahrzeit zwischen den einzelnen Stationen unterschiedlich lang ist, habe ich natürlich einige der Frauen nur mehr flüchtig im Gedächtnis. Es geschieht allerdings recht oft, daß jemand ab einer bestimmten Station längere Zeit mir gegenübersitzt. Manches Mal waren es nur bestimmte Gesten oder ein besonderer Gesichtsausdruck, die mich beeindruckten.
 


181. Straße.
 
Es sind vor allem unbedeutende Kleinigkeiten, die plötzlich Interesse erwecken. Vor einigen Tagen – schon auf meinem Rückweg – sah ich eine Riesenfau, eine Weiße, gigantisch in allen Dimensionen. Sie war zumindest einen Meter neunzig groß, ihr Bauchumfang schien fast von der selben Größenordnung zu sein. Im Gegensatz zu den meisten anderen extremen Dicken, die sich sofort nach dem Einsteigen auf einen Sitz zwängen, blieb sie die ganze Fahrt stehen, ganz offensichtlich, um andere wegen ihres Körperumfangs nicht zu belästigen. Sie hatte über der Hose nur eine Strickweste an, die Bluse darunter stand weit offen und bot Einblick auf eine gewaltige Busenlandschaft. Fasziniert hat mich zunächst ihr Gesicht, das fast mädchenhafte Züge aufwies und von einer Vielzahl von Sommersprossen übersät war. Ihr jugendlich frisches Gesicht schien ganz offensichtlich im Widerspruch zum Rest ihres Körpers zu stehen. Wirklich beeindruckt war ich allerdings von ihrer Schuhgröße, die eher der eines Kindes als der einer derartig mächtigen Frau entsprach. Es waren zierliche, winzige Schuhe. Armer Teufel, dachte ich mir, als wir gemeinsam bei der 181. Straße ausstiegen und sie durch den separaten Ausgang für Kinderwagen gehen mußte, da sie im üblichen Drehkreuz vermutlich steckengeblieben wäre. Wie, überlegte ich, kann eine junge Frau wie sie überhaupt ein normales Leben führen? Hat sie Freunde? Wie kommt sie in ihrem Alltag zurecht? Kann sie einen ganz normalen Beruf ausüben, für sich selbst sorgen? Und ich habe mich über mich selber geärgert und geschämt, zuvor auf der Stiege wie gebannt auf ihr überbreites Hinterteil gestarrt zu haben. 
 

175. Straße. Gestern, zum Beispiel, stiegen bei der 175. Straße zwei Mädchen ein, beide mit Kopfhörer versehen, und setzten sich auf eine Bank im hinteren Ende des Waggons. Eine der beiden jungen Frauen hat meine Aufmerksamkeit erregt, denn nicht nur, daß die beiden trotz – oder vielleicht gerade wegen –ihrer Kopfhörer ziemlich laut miteinander sprachen, schienen sie auch über das Gesagte ausgesprochen belustigt zu sein. Ich konnte zwar nicht verstehen, was die beiden miteinander redeten, das Lachen jedoch war mehr als deutlich zu vernehmen. Plötzlich hat eine von ihnen Pinsel, Handspiegel und Puderdose aus ihrer Tasche genommen und begonnen, ihr Makeup in Ordnung zu bringen. Klarerweise, ohne aufzuhören, zwischendurch herzhaft zu lachen. Ob sie hübsch war? Eigentlich nicht! Sie hatte ein schmales, längliches Gesicht, halblange, braune Haare und natürlich, wie fast alle ihres Alters, grellbunt lackierte Fingernägel. Im Grunde genommen, eine eher unscheinbar wirkende junge Frau. Das Bemerkenswerte an ihr war das Lachen. Ein Lachen, fröhlich und offen, voll freudiger Erwartung auf die Ereignisse des auf sie zukommenden Tages. Das andere Mädchen stieg nach einigen Stationen aus, sie blieb sitzen und widmete sich hingebungsvoll dem Schminken. Als sie ausstieg, ich glaube mich erinnern zu können, es war die 42. Straße, habe ich mich gefragt, wohin sie wohl hingehe. In ein Büro oder in ein Geschäft? Ist sie vielleicht eine Verkäuferin? Eine der unzähligen Sekretärinnen? Wo immer sie auch hingegangen sein möge, sie hat dorthin sicherlich ein kleines Lächeln mitgebracht. 
 

168. Straße.
 
Unlängst beim Zurückfahren stieg bei der 59. Straße eine ziemlich sonderbare Frau ein. Sie hatte nämlich ein „Bärlihauberl“ auf, so eines mit einem eingewirkten Spielzeugbären über der Stirne, wie es gelegentlich von Kindern getragen wird. Den braunen Mantel hielt sie fest zugeknöpfelt, obwohl es im Waggon ziemlich warm, ja, fast heiß war. Dem Alter nach dürfte sie zwischen sechzig und siebzig gewesen sein. Ihr Gesicht erinnerte mich ein wenig an das von zurückgebliebenen Kindern. Dem Äußeren nach war sie fast besser angezogen als der Rest der sich im Waggon Befindlichen, mich selbst natürlich miteingeschlossen. Auffallend waren auch die blankgeputzten braunen Lederschuhe, fast schon eine Singularität in einer Stadt, in der vorzugsweise Tennisschuhe, meist sogar ziemlich schäbige, getragen werden. Sofort nachdem sie sich gesetzt hatte, begann sie in ihrem Plastiksack zu kramen und entnahm ihm schließlich so eine Art Kinderbuch, in dem auf jeder Seite einzelne Teile zum Herausklappen sind. Leise vor sich hin kichernd, öffnete sie immer wieder die Fenster oder Klappen in diesem Buch und drückte sie danach wieder zu. Ich starrte immer wieder auf ihre Haube. Wie konnte sich eine Frau ihres Alters bloß ein derartig auffallendes Kinderhauberl aufsetzen? War mein Gegenüber eine geistig Zurückgebliebene? Es waren nur ein paar Minuten, die sie mir gegenüber verbrachte, und dennoch, ihr „Bärlihauberl“ und ihr kindlich gelöstes Gesicht werde ich nicht so schnell vergessen. 
 


145. Straße.
 
Sie hielt einen Pappendeckel mit der Aufschrift „Bitte, helfen Sie mir!“ in der einen Hand und ein kleines Kind an der anderen. Außerdem war sie hochschwanger. Bettelnd zog sie durch den Waggon. An ihr Gesicht kann ich mich nicht erinnern, ich verspürte nur die abweisenden Blicke der Mitfahrenden, auch jener, die gelegentlich den in U-Bahnen aufspielenden hispanischen Musikern einen Dollar spendieren. Alle schienen durch sie hindurchzublicken. Hatten sie vielleicht diese Frau als gewerbsmäßige Bettlerin erkannt? So ähnlich, wie ich bereits jenen Schwarzen kenne, der stets, selbst im Winter, mit bloßen Füßen auf den Bahnsteigen ein und derselben Station bettelt? Sie jedenfalls war nicht anders gekleidet als die meisten anderen im Waggon. Selbst ihr Kind hat nicht vernachlässigt ausgeschaut. War sie vielleicht auf der Flucht vor einem gewalttätigen Mann und hatte das Haus ohne einen Dollar im Sack verlassen? Der Gedanke, man hätte die Gabe, Schicksale aus Gesichtern ablesen zu können, ist eigentlich erschreckend.

125. Straße.
 
Als ich unlängst von einem kurzen Blick auf meinen Netzplan der U-Bahnen aufschaute, saß zu meiner Überraschung eine äußerst hübsche Schwarze mir gegenüber, die offensichtlich, von mir unbemerkt, bei der letzten Haltestelle eingestiegen sein muß. Sie war bestens, und das mit gutem Geschmack, angezogen: Unter ihrem offenstehenden schwarzen Mantel ließ sich ein eleganter, gut sitzender schwarzer Hosenanzug erkennen. Sie hatte ein ebenmäßiges, schönes Gesicht, das auf jegliche Schminke leicht verzichten konnte. Ihr Haar, das sich in einem länglichen, umfangreichen Bausch am Hinterkopf fortsetzte, war sehr stark gewellt. Plötzlich griff sie nach hinten und löste das Band, das den Bausch zusammengehalten hatte. Wie ein Wasserfall fielen die Haare herab und standen als gewaltige Berge zu beiden Seiten ihres Gesichts ab. Wirklich beeindruckt war ich allerdings, als sie ihre Tasche öffnete, ein Säckchen mit feingeschnittenen Karotten und ein kleines Plastikdöschen mit einem Aufstrich herausnahm. Eine Karottenschnitte nach der anderen, vorsichtig in den Aufstrich eingetaucht, verschwand höchst manierlich in dem von einem Wald von Haaren umgebenen Mund. Nachdem sie etwa die Hälfte der Karottenstäbchen verspeist hatte, packte sie alles wieder ein. Noch einmal in ihrer Tasche kramend, hielt sie schließlich ein Säckchen mit Nüssen und Rosinen in der Hand, die sie fein säuberlich, fast zelebrierend, langsam verspeiste. Wiederum nicht alle, sondern nur ein paar. Plötzlich stand sie auf, verstaute das Säckchen und stieg tänzelnd aus. War es eine Show gewesen, die sie für uns alle im Waggon eben abgezogen hatte? Oder gehörten die Karottenstäbchen zu ihrem glanzvollen Lebensstil? Schade, daß sie so bald wieder ausgestiegen ist: Ich hätte sie gern noch etwas länger bewundert. 
 


59. Straße. 
Für gewöhnlich sitzen sehr viele Afroamerikaner in der U-Bahn, Männer und Frauen, Junge und Alte. Viele von ihnen sprechen Spanisch, die Sprache jener Länder in der Karibik oder Mittelamerikas, aus denen sie oder ihre Vorfahren eingewandert sind. Sie gehören zum Alltag in der U-Bahn, genauso wie das Rütteln der Waggons oder der dröhnende Lärm beim Ein- oder Ausfahren eines Zugs in eine Station. Und für gewöhnlich hat man die Gesichter der Mitfahrenden bereits beim Aussteigen wieder vergessen, spätestens jedenfalls, sobald einen das übliche Straßenbild umgibt. Die Schwarze, die vor einiger Zeit bei der 59. Straße, beim Columbus Circle, eingestiegen war, schien jedoch anders zu sein, obwohl ihr Äußeres vollkommen dem ständigen Braun-Grau der anderen Fahrgäste entsprach. In ihren Augen konnte man nämlich Angst ablesen. War es Angst vor den anderen im Waggon? Angst vor einem möglichen Verfolger? Nicht ihre Körpersprache schien Angst widerzuspiegeln, sondern lediglich ihre Augen. Unruhige, gehetzte Augen. Bereits nach einer Station stieg sie wieder aus, vielleicht, um in eine andere Linie umzusteigen; vielleicht aber auch, um ihre Spur zu verwischen. 
 


42. Straße
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Manches Mal ergibt sich der Eindruck, daß mehrere Frauen einem einzigen Archetypus angehören. Als unlängst bei der 42. Straße drei jüngere Frauen einstiegen und, zwei auf der selben Bank, die dritte mir gegenüber, Platz nahmen, zückten alle drei fast zeitgleich ihre Smartphones und begannen, sich mit Spielen die Fahrzeit zu verkürzen. Die drei sahen weder auf, noch sandten sie prüfende Blicke in Richtung der jeweils anderen aus. Obwohl eine von ihnen eine Asiatin war und demnach sich auch durch ihr Äußeres von den anderen beiden unterschied, wuchsen die drei in meiner Erinnerung zu einer einzigen Person zusammen. Anscheinend losgelöst von ihrer Umgebung, verschoben sie gespannt auf ihren winzigen Bildschirmen Karten oder laufende Männchen. Eigenartigerweise stiegen die drei auch bei der selben Station aus. Ein kurzer Blick, ob dies auch die richtige Station ist, Einstecken des Spielgeräts, und schon verließen sie den Waggon. Frauen wie diese drei, die sofort ihr Smartphone zum Spielen zücken, sehe ich fast bei jeder Fahrt in der U-Bahn. Vermutlich nimmt das elektronische Spielen bereits einen beträchtlichen Teil ihrer täglichen Aufmerksamkeit in Beschlag. Eine elektronische Vereinsamung scheint langsam um sich zu greifen, nicht nur in der U-Bahn. 
 


34. Straße
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Sie machte einen müden Eindruck wie jemand nach einem langen, angestrengten Arbeitstag. An einem Handgelenk trug sie mehrere Goldreifen. Ihr Aussehe und ihr Mantel zeugten von mittelständischen Verhältnissen. Im Vergleich zum üblichen Eindruck von den Anwesenden im Waggon schien sie fast eine Ausnahme zu sein. Nur ihre Hände, die sie wie zum Ausruhen kraftlos in den Schoß gelegt hatte, waren rauh und abgearbeitet. Reste von Nagellack verstärkten den Eindruck von oftmaliger körperlicher Arbeit. Dem Alter nach dürfte sie zwischen 40 und 50 gewesen sein, ihr Gesicht verriet Zugehörigkeit zur hispano-amerikanischen Minderheit. Hatte sie Sorgen um ihre Familie? Um halbwüchsige Kinder, die den täglichen Gefahren des Alltags und der Schule ausgesetzt sind? Sie saß in sich versunken auf ihrem Platz und starrte vor sich hin. Auf einen imaginären Punkt, um die Gedanken und Sorgen, die ihr durch den Kopf gingen, in geordnete Bahnen zu lenken. Es war eine besorgte, ängstliche Müdigkeit, die von ihr ausging und die sie nicht während der Fahrt einschlafen ließ. Wie so manche andere im Waggon. 
 


14. Straße. Eigentlich paßte sie überhaupt nicht in das gewohnte Bild der Mitreisenden im „A-train“. Sie saß starr, weder nach links noch nach rechts schauend, mit einem buntgemusterten Kopftuch angetan und in einen langen, bis zu den Fersen reichenden Stoffmantel gehüllt, auf ihrem Platz. In der Hand hielt sie, fest an ihren Körper gepreßt, eine Tasche mit einem langen Bügel. Es muß sich um eine Russin handeln, dachte ich mir, oder um eine Besucherin aus einem Teil der ehemaligen Sowjetunion: Alles an ihr, das lange Kopftuch, der Mantel und die sonderbare Tasche widerspiegelt vergangene, osteuropäische Modevorstellungen. Ihre Begleiterin dagegen, die gemeinsam mit ihr eingestiegen ist und mit der sie kurz vermutlich Russisch sprach, schien vollkommen der amerikanischen Alltagskultur angepaßt zu sein. Die beiden Frauen sahen sich auffallend ähnlich. Obwohl es in Brighton Beach eine größere russische Kolonie gibt und alle dort wie aus einem DDR-Kaufhaus eingekleidet ausschauen, hat sich in mir der Eindruck festgesetzt, daß es sich um eine auf Verwandtenbesuch in New York weilende Osteuropäerin handle, denn selbst in Brighton Beach würde keine der Russinnen dort auf die Idee kommen, sich ein „Babuschka“-Kopftuch aufzusetzen.



4. Straße.
 
Sie, eine junge Schwarze, saß fast die ganze Strecke mir gegenüber. Warum sie mir aufgefallen ist, ist gar nicht so leicht zu erklären. Sie schaute eigentlich nur unheimlich brav aus. Das einzige Ausgefallene an ihr waren die langen, goldenen Ohrenringe. Sie unterschied sich wohltuend von der üblichen Schäbigkeit in U-Bahn-Waggons: Biedere Kleidung, die bescheidenen Wohlstand verriet und aus einer der eher billigeren Kaufhausketten zu stammen schien. Kein nervöses Spielen am Handy, keine Kopfhörer, kein Protzen mit einem iPAD. Ein dem Anschein nach überaus wohlerzogenes Mädchen, brav, wie gesagt, vielleicht sogar etwas zu bieder, Vertrauenswürdigkeit aussendend. Ich hätte sie gerne gefragt, was sie macht, oder, wo sie arbeitet, befürchtete jedoch, daß dies als billiges Anbandeln aufgefaßt werden könnte. Warum sie mir also aufgefallen ist? Vielleicht habe ich mich bis dahin von den anderen, den Lauten, Aufdringlichen abhalten lassen, auch Stilles zu bemerken. Ich bin sicher, so eine wie sie gibt es viele.
 


Sie haben mir wohl nicht geglaubt, daß ich mich an alle zehn Frauen erinnern kann. Wissen Sie, am besten, Sie probieren es selber einmal aus. Sie brauchen nur ein bis zwei Wochen lang mit der New Yorker U-Bahn fahren, egal welche Linie, und Sie werden ähnliche Eindrücke wie ich sammeln können. Es ist eine „real time“-Show, die Sie nur ein paar Dollar pro Fahrt kostet.


©  Peter Weinberger 2015