APOGRAFFITI

Zwanzig unzeitgemäße Erzählungen

 

Ohne Spiegel ist weder Raum noch Zeit erfahrbar. Raum- und Zeitspiegel verwischen die Grenzen von Rationalität und Irrationalität: das gespiegelte Bild ist zu gleich rational und irrational, so wie die Geschichten in diesem Buch. Geschichten vermögen zeitliche Distanzen zu überbrücken, abzukürzen, aufzulösen. Die Unebenheit der Reflexionsflächen vermittelt Farbigkeit durch Unschärfe, eine Nähe zu weitentfernten Zeiten und Personen in merkwürdig entstellter Schrillheit, eben jene Imagination -- Verbildlichung -- einer schwer vorstellbaren Wirklichkeit, die sich beharrlich Alltagserfahrungen entzieht.

 

Inhalt:

 

1   Die Martinskapelle zu Assisi 3
2   Das Geländer des Otto Wagner 13
3   Nach dem Jüngsten Gericht 19
4   Die zerbrochenen Tafeln 23
5   Gog und Magog 31
6   Ein endgültiger Abschied 39
7   Helenas letzter Liebhaber 49
8   Davids Rache 59
9   Die drei Heiligen Könige zu Autun 65
10 Im Angedenken eines Engels 69
11 Der König der Franken zu Syrien oder Raschi vor Akko 73
12 Der Elefant Kaiser Karls des Großen 79
13 Charon von der Weißgerberlände 91
14 Sulamit 97
15 Habakuk 103
16 De Profundis 107
17 Der Kopf des Simon von Montfort 119
18 Algunos dicen que yo quiero ser Monarca del Mundo 127
19 Der Hulupu-Baum 139
20 Das allerletzte Gedicht Jehuda Halevis 147

Arnolfini oder die Faszination gespiegelter
Spiegel 159
 

 

Man schrieb den 26. März 1331. In einer eher schäbigen Herberge, nahe der alles überragenden Burg der Stadt Assisi, wartete ungeduldig ein älterer Mann auf die Neuankommenden. Immer wieder stand er auf, um vor die Tür zu treten und entlang der steil nach unten führenden Gasse zu blicken. Doch alles, was er sah, waren die sich aneinander drängenden Dächer Assisis. Die Stimmen, die er vernommen hatte, gehörten zu Bürgern der Nachbarschaft. Endlich, als bereits Dunkelheit sich über die Stadt ausgebreitet hatte, betraten drei junge Männer die Herberge. "Na also, da seid ihr ja", rief der Mann und stand auf, um sie zu begrüßen: "Ich habe schon den ganzen Tag auf euch gewartet." Mit Wohlgefallen betrachtete er seine Gäste, insbesondere das Brüderpaar, von dem er schon so viel gehört hatte. Das ist sie also, dachte er, während die Jungen von ihrer Reise aus Siena erzählten, das ist die junge Generation, die dem alten Duccio nachgefolgt ist. Sein eigener Lehrer, der Maestro Cimabue, fiel ihm ein. Wie viel hatte sich seit diesen beiden geändert! Duccio und Cimabue gehörten noch zwei von einander getrennten Welten an. "Wer von euch beiden ist Pietro?", fragte er schließlich, sich an das Brüderpaar wendend. "Ich", lachte ihn einer der Jungen an, "und das ist mein kleiner Bruder, der Ambrogio", obwohl ihn der Besagte fast um einen Kopf überragte. "Und ich bin der Simone", fügte der Dritte hinzu, "und, Gott sei Dank, nicht mit diesen beiden Wirrköpfen verwandt." Alle lachten übermütig.
Die anderen Gäste in der Herberge musterten mißlaunig den Alten mit seinen jungen Freunden.
"Wer ist denn der Alte?", fragte endlich einer von ihnen heimlich den Wirt. "Das ist der Giotto di Bondone", antwortete dieser voll Stolz, so berühmte Leute zu seinen Gästen zählen zu dürfen. "Und die anderen müssen wohl die Brüder Lorenzetti sein und der Martini aus Siena, von denen es heißt, sie würden einen weiteren Teil unserer Kirche zum Heiligen Franziskus bemalen."

Aus "Die Martinskapelle zu Assisi"

 

 
Zwanzig unzeitgemäße Erzählungen
 
Österreichisches Literaturforum 2001
ISBN 3-900860-15-7

 

Buchpräsentation: Werner Welzig, 30.10.2001, Palais Porcia